«Wie sah er aus?»
Carla schnitt eine Grimasse. «Du fragst Sachen, Schätzchen. Wenn er mich angesprochen hätte, hätte ich mir sein Gesicht gemerkt. In meinem Job weiss man schliesslich nie … aber er hatte kein Interesse.»
Ich dachte an Ali. «Hatte er dunkle, krause Haare?»
«Nein, seine Haare waren glatt, da bin ich mir sicher. Und braun.»
«Trug er tief sitzende Jeans?»
Wieder schüttelte Carla den Kopf. «Dafür war er zu alt.»
«Wie alt?»
«Schwer zu sagen. Um die dreissig vielleicht? Etwas älter?»
An mehr konnte sich Carla nicht erinnern. Ein Audifahrer liess die Scheibe hinunter, und sie verscheuchte mich. Kurz darauf fuhr sie davon. Ich schlenderte zur Haustür und steckte den Schlüssel ins Schloss. Mitten in der Drehung hielt ich inne. Ein absurder Gedanke schoss mir durch den Kopf. «Nein», murmelte ich wie eine Verwirrte vor mich hin, «das ist nicht möglich.» Und wenn doch? Ich schüttelte den Kopf. Doch der Gedanke liess mich nicht los. Ich musste mit Julie reden.
Ich schlug den gleichen Weg ein wie am Vorabend. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich überrascht aufsah, als ich mich vor Julies Wohnhaus wiederfand. Diesmal drückte ich, ohne zu zögern, auf die Klingel. Frau Ramadani öffnete. Wieder lächelte sie zurückhaltend, doch sie bat mich sofort hinein. Sie erklärte, dass Julie jeden Moment da sein würde, und deutete aufs Wohnzimmer, aus dem Musik erklang. Leo! Mir wurde gleichzeitig warm und kalt. Ihn hatte ich ganz vergessen. Vor allem, dass ich ihn gestern beleidigt hatte.
Er lümmelte auf dem Sofa herum, vor sich einen Laptop. Als er mich sah, bebten seine Nasenflügel. Er servierte mir kommentarlos ein Glas Cola, nachdem seine Mutter ihn dazu aufgefordert hatte. Ich spürte Frau Ramadanis unsicheren Blick und räusperte mich. «Schöne Musik», sagte ich.
Leo tat, als hörte er mich nicht.
«Wie heisst der Sänger?», fuhr ich unbeirrt fort.
«Sinan Hoxha.» Er schien nur seiner Mutter zuliebe zu reden.
«CD?»
«YouTube.»
Wir verfielen in Schweigen, bis Frau Ramadani etwas auf Albanisch sagte. Aus ihrem Tonfall schloss ich, dass sie Leo schalt. Daraufhin drehte er den Laptop so, dass ich einen Sänger mit Sonnenbrille erkennen konnte, der mit einer dunkelhaarigen Schönheit tanzte.
«Ich stelle eine CD für Chris zusammen», presste Leo hervor. Plötzlich schien er auf eine Idee zu kommen. «Irgendetwas klappt mit dieser Datei nicht. Verstehst du etwas von Computern?»
Ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich war ich ein hoffnungsloser Fall, wenn es um Computer ging. Aber vielleicht wusste Leo noch weniger als ich. Arbeiteten Albaner nicht meistens auf dem Bau?
Er schob mir die Maus hin. Er war so nah, dass ich die Rundungen seiner Muskeln unter dem weissen T-Shirt erkannte. Ich fragte mich, ob er sich die Brusthaare rasierte. Vielleicht hatte er noch gar keine. Jerôme war immerhin schon 21.
In Leos olivefarbenen Augen lag ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Fast, als würde er mich herausfordern.
«In welchem Laufwerk befindet sich die CD?», fragte ich.
Leo fläzte sich ins Kissen. «Keine Ahnung.»
Ich begann, die Laufwerke abzusuchen.
«Nicole! Was machst du denn hier?», rief Julie von der Tür aus.
Erleichterung durchströmte mich. «Julie!» Ich stand auf. «Ich muss dich unbedingt etwas fragen.»
«Ich hoffe, es hat nichts mit Französisch zu tun. Da bin ich eindeutig die Falsche! Aber wenn du etwas über Mathe wissen möchtest … Komm mit!» Sie machte eine Handbewegung zu ihrem Zimmer.
«Und was ist mit der CD?», rief Leo.
«Welche CD?», fragte Julie.
«Nicole wollte mir helfen, eine CD zu brennen.»
Julie verdrehte die Augen und führte mich in ihr Zimmer. «Manchmal hat er einen Knall.»
«Ich verstehe nicht viel von Computern.»
Julie sah mich an, als hätte ich etwas Komisches gesagt.
«Was ist?»
«Leo ist Informatiker. Zwar erst im ersten Lehrjahr, aber es gibt nichts, das er nicht schafft an einem Computer.»
Mein Mund klappte auf, doch ich blieb stumm. Bevor ich die Zimmertür hinter mir zuzog, blickte ich über die Schulter. Leo grinste hämisch. Idiot, dachte ich. Ist das seine Vorstellung von Spass, oder zahlt er mir meinen Spruch über Albaner heim?
Julie liess sich aufs Bett fallen. «Was wolltest du mich fragen?»
Ich erzählte ihr vom Einbruch und von meinem Verdacht, er könnte etwas mit dem Diebstahl ihrer Tasche zu tun haben. «Das kann nicht Zufall sein! Beides geschah am gleichen Tag. Und mitgenommen hat der Einbrecher nichts. Er muss etwas gesucht haben.»
«Was denn?», fragte Julie verdattert.
«Keine Ahnung. Offenbar hat er es nicht in deiner Tasche gefunden, sonst wäre er nicht bei mir eingebrochen.»
«Aber es fehlte nichts bei dir.»
Ich breitete die Arme aus, genauso ratlos wie Julie.
«Warst du bei der Polizei?», fragte Julie.
«Nein! Und da geh ich auch nicht hin.»
Julie neigte den Kopf zur Seite. «Was hast du gegen …»
«Versprich mir, dass du niemandem vom Einbruch erzählst!»
Julie wand sich.
«Julie! Versprich es mir!»
«Na gut. Aber ich sehe nicht ein, war…»
«Die Bullen werden nichts unternehmen. Glaub mir, ich kenne mich aus. Wir kriegen nur Ärger.»
Julie schwieg. Vor dem Haus wurde eine Autotür zugeschlagen, kurz darauf hörte ich, wie Frau Ramadani ihren Mann begrüsste.
Ich fragte Julie, ob sie am Mittwochnachmittag schon etwas vorhatte. Als sie verneinte, beschlossen wir, mit dem Vortrag zu beginnen. Wenn der Diebstahl und der Einbruch etwas mit «Staub Recycling» zu tun hatte, kämen wir so vielleicht weiter.
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