Reset. Petra Ivanov. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Ivanov
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9783858827777
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Haar, in dem ich keine einzige graue Strähne sah. «Du kannst mich nicht bis in alle Ewigkeit Papa nennen.»

      Ich versuchte es. Der Name kam mir fast nicht über die Lippen. Schliesslich einigten wir uns auf Dad.

      Es war dunkel geworden. Ich blickte nach unten und sah, dass meine Tränen auf das Blatt mit den Fragen gefallen waren. Wann würde ich aufhören, ihn zu vermissen? Sorgfältig tupfte ich das Blatt mit der Hand ab. Die Buchstaben verschmierten noch mehr. Ich stand auf, um das Fenster wieder zu öffnen. Mein Blick schweifte nach unten. Die Prostituierte stand nicht mehr dort.

      «Aus alten Reifen werden Schuhsohlen gemacht», sagte Julie. «Fast alles lässt sich recyclen.»

      Ich zuckte mit den Schultern. «Das weiss wohl jeder heutzutage.»

      «Dann sag mir doch, wie viel Abfall wiederverwertet werden kann.»

      «Bestimmt über die Hälfte.»

      «95 Prozent! Das hast du nicht gewusst, oder?»

      Erneut zuckte ich mit den Schultern, Julie war das jedoch egal. Sie schien immun zu sein gegen schlechte Laune. Heute trug sie spiralförmige Ohrringe, in denen sich ihre Haarsträhnen verfingen. Ihr Top kam mir vor wie eine Mischung aus einem billigen Fummel und einer Kreation eines Designers. Es stand ihr, wie alles, was sie trug.

      «Unsere Abfallsäcke müssten eigentlich leer sein», fuhr Julie fort. «Sind sie aber nicht.»

      «Natürlich nicht, es ist bequemer, Sachen in den Abfall zu werfen.» Ich sah das an mir selbst. Klar, Batterien warf ich nicht weg, aber leere PET-Flaschen zum Beispiel schleppte ich nicht mit mir herum, bis ich an einem Sammelbehälter vorbeikam.

      «Eben», sagte Julie. «Und das werden wir mit unserem Vortrag ändern. Wenn …»

      «Du glaubst doch nicht, dass du mit einem Vortrag etwas änderst?»

      «Doch.» Julie rutschte näher.

      Wir sassen auf der niedrigen Mauer vor der Turnhalle. Julie war mir nach einer Woche noch genauso fremd wie die anderen Schüler meiner Klasse. Sie gehörte keiner Clique an, wurde aber respektiert. Und das, obwohl sie keine Schönheit war. Ihre Nase war etwas zu gross, und ihre kurzen Beine liessen sie plump erscheinen. Dennoch war sie auf eine eigenartige Weise attraktiv. Sie war eben Julie. Wenn ich mit ihr zusammen war, fielen keine dummen Sprüche, und niemand machte sich über mich lustig.

      «Pass auf», sagte sie und zog ein Foto aus ihrer Schultasche.

      «Was ist das?»

      «Neapel! Die Stadt hat ein krasses Abfallproblem. Es gibt zu wenig Verbrennungsanlagen und Deponien. Neapel versinkt im Dreck, es ist total widerlich! Ich habe eine ganze Fotoserie. Wirst schon sehen, das macht Eindruck.»

      Ich glaubte nicht, dass die Bilder abschreckten. Neapel war zu weit weg. Aber ich widersprach Julie nicht. Sie war so optimistisch, ich wollte ihr keinen Dämpfer versetzen.

      «Stimmt es, dass du auf dem Gymnasium warst?», fragte sie auf einmal.

      Ich nickte.

      «Schade, dass du rausgeflogen bist. Waren deine Eltern sauer?»

      «Ich bin nicht rausgeflogen! Ich hatte keine Lust mehr.»

      Julie sah mich erstaunt an. Ihre Augen hatten die Farbe von grünen Oliven. Rasch stand ich auf. Als ich mir den Staub von der Jeans wischte, hörte ich etwas knistern. Ich hatte vergessen, die fünfzig Franken für die Klassenkasse abzugeben. Obwohl ich wusste, dass es zickig aussah, stemmte ich die Hände in die Seiten. Meine Designerhose hing zu Hause im Schrank. Ich trug jetzt gewöhnliche Jeans aus dem Warenhaus, aber sie passten nicht recht. In der Taille stand der Stoff ab, an meinen Oberschenkeln spannte er. Deshalb verdeckte ich meine Hüften mit den Händen, wenn ich stand.

      «Ich kann sie dir anpassen, wenn du willst», sagte Julie und deutete auf die Jeans. «Eine kleine Naht, und sie sieht echt gut aus!»

      Ich spürte, wie ich rot wurde. Ich ging nicht auf das Angebot ein.

      Jetzt war es Julie, die mit den Schultern zuckte. Sie zog ihr Handy hervor und sah aufs Display. «Ich muss los. Bis am Montag!»

      Kaum war sie um die Ecke verschwunden, schlenderte der dunkelhaarige Typ, der mir am ersten Tag nachgepfiffen hatte, wie zufällig in meine Richtung, dicht gefolgt von drei Kollegen. Inzwischen wusste ich, dass er Ali hiess. Seine Hose hing noch tiefer als sonst.

      «Sieh mal an, Miss Ritz, ohne Bodyguard.» Ali ging langsam um mich herum, dann zog er die Augenbrauen zusammen und zeigte auf meinen Hintern. «Kaugummi!»

      Meine Hand schoss zur Stelle, auf die er zeigte. Ich spürte nichts und begriff, dass ich ihm auf den Leim gekrochen war.

      «O la la», sagte Ali mit hoher Stimme. Weitere Jugendliche kamen hinzu. Neugierig warteten sie auf meine Reaktion. Entsetzt merkte ich, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Als ich hörte, wie jemand «Zicke» flüsterte, brannte mir eine Sicherung durch. Für wen hielten sie sich eigentlich? Sie hatten keine Ahnung, wer ich war. Ich legte meine Handflächen auf Alis Brust und stiess ihn mit voller Wucht weg. Er war so überrascht, dass er über seine Füsse stolperte und der Länge nach hinfiel. Ich rannte davon, ohne zu achten wohin. Meine Beine trugen mich einfach weg, vorbei an Quartierläden, Massagesalons und schummrigen Lokalen. Fast prallte ich mit einem Velofahrer zusammen. Ich hörte, wie er hinter mir fluchte. An einer Haltestelle verlangsamte ich das Tempo und rang nach Luft. Vor mir hielt ein Tram. Ich sprang, ohne zu überlegen, hinein.

      Nur wenige Stationen, und ich war in einer anderen Welt. Meiner Welt. Ich stieg an der Bahnhofstrasse aus, fühlte mich wie eine Schiffbrüchige, die an Land geschwemmt wird. Ich sah Bankangestellte, Shopper, Touristen.

      Mein Blick wanderte zu einer Confiserie. Die Umrisse verschwammen in meinen Tränen, die Bilder in meinem Kopf waren jedoch gestochen scharf: Dad, der mir eine heisse Schokolade bestellte und das Kreuzworträtsel hervorholte. Meine Fingerkuppen, die vom Fett des Gipfels glänzten. Als wir das letzte Mal hier gewesen waren, hatte Dad abwesend in seiner Zeitung geblättert, vor sich ein Kuchenstück, das er nicht ass. Der angespannte Zug um seinen Mund war mir fremd gewesen. Ich ahnte damals nicht, dass er bleiben würde.

      «Nicci!», ertönte eine Stimme, die ich gut kannte. Meine Hand flog zu meinem Herzen, das plötzlich heftig pochte. Vor mir standen Carol und Ladina.

      «Mein Gott, wir dachten schon, du seist untergetaucht!» Küsschen links, Küsschen rechts. «Warum hast du dich nie gemeldet?» Carol klang vorwurfsvoll, doch ich hörte die Neugier in ihrer Stimme. Carol interessierte sich nicht dafür, wie es mir ging, sondern wollte aus erster Hand erfahren, was ich erlebte, um es brühwarm weiterzuerzählen.

      «Ich hatte zu tun. Der Umzug, die neue Schule, ihr wisst schon.»

      «Wie ist es?», fragte Ladina atemlos. «Hast du Angst?»

      «Wovor?»

      «Na, vor den Gangs und so. Ich würde mich nicht mehr auf die Strasse trauen! Man könnte ja plötzlich ein Messer im Rücken haben. Oder schlimmer …» Ladina erschauerte.

      «In … wo wohnst du schon wieder?», fragte Carol.

      «Aussersihl», murmelte ich. Früher hatte ich die einzelnen Stadtteile auch nicht gekannt. Wenn ich nach Zürich gefahren war, dann ausschliesslich in die City. Dort befanden sich die guten Läden und die gestylten Clubs.

      «In Aussersihl wurde doch kürzlich ein Mädchen vergewaltigt!», fuhr Carol fort. «Von Ausländern, oder?»

      «Du meinst Seebach», sagte ich. Seebach lag am Rand von Zürich.

      «Bei euch hat es bestimmt auch viele Ausländer», sagte Carol.

      Ladina legte mir eine Hand auf den Arm. «Tut mir leid, ich wollte dir keine Angst einjagen. Es muss ja furchtbar sein, du …»

      «Ich muss los», sagte ich rasch, «hab versprochen, noch etwas fürs Abendessen einzukaufen.»

      Ladina quietschte erfreut. «Trifft sich gut, wir