Petra Ivanov
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Petra Ivanov
Kriminalroman
Appenzeller Verlag
7. überarbeitete Auflage, 2017
© 2009 by Appenzeller Verlag, CH-9103 Schwellbrunn
Alle Rechte der Verbreitung,
auch durch Film, Radio und Fernsehen,
fotomechanische Wiedergabe,
Tonträger, elektronische Datenträger und
auszugsweisen Nachdruck sind vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Janine Durot
Umschlagfotos: Lyle Owerko (Getty Images), faestock (Shutterstock)
Satz: Verlagshaus Schwellbrunn
ISBN: 978-3-85882-776-0
ISBN eBook: 978-3-85882-777-7
eBook-Herstellung und Auslieferung:
HEROLD Auslieferung Service GmbH
www.verlagshaus-schwellbrunn.ch
Für Leonie
1
erster schultag
«Suchst du den Golfclub?», rief ein Mädchen mit Piercing. Rund herum Gekicher.
Ich tat, als hörte ich es nicht.
«Ich hab dich etwas gefragt!» Das Mädchen kam langsam auf mich zu.
Angespanntes Schweigen, alle sahen mich an. Dabei hatte ich mir nur gewünscht, an meinem ersten Schultag nicht aufzufallen. Die letzten Monate waren der reinste Horror gewesen. Kopfschütteln, abgewandte Blicke, Geflüster hinter vorgehaltener Hand. Davon hatte ich die Nase gestrichen voll. Ich rückte meine Tasche zurecht, so dass sie den Pfirsichfleck auf meiner Designerjeans verdeckte. Ein kräftiger Typ mit tief sitzender Hose stiess einen leisen Pfiff aus. Er wechselte mit dem Mädchen einen Blick, und beide kamen einen Schritt näher. Meine Kehle wurde trocken. Ich versuchte, den Fuss zu heben, doch er war wie festgeklebt.
Ich konzentrierte mich auf die Tür, die ins Schulhaus führte. Blendete die Stimmen aus, die über mich tuschelten. Irgendwie schaffte ich es weiterzugehen. Die Tür war verschlossen. Mit gespielter Gelassenheit liess ich den Arm sinken. Gar nicht so einfach, wenn das halbe Schulhaus zuschaut.
«Ist die Gucci-Tasche echt?», kreischte ein blondes Mädchen.
Auf einmal wurde die Tür vor mir aufgezogen. Gleichzeitig erklang die Schulglocke. Zimmer 23, wiederholte ich in Gedanken. Als ich den Raum endlich fand, klingelte es schon zum zweiten Mal. Rasch liess ich mich auf einen freien Stuhl fallen. Da bemerkte ich, dass alle Schüler viel jünger aussahen als ich. War das die neunte Klasse? Ich zerrte den Stundenplan hervor. Das Blatt zitterte in meiner Hand. Ich hörte nicht, wie mich die Lehrerin ansprach. Sie legte mir eine Hand auf die Schulter und wiederholte ihre Frage. Unsicher erklärte ich, dass mein Klassenlehrer Friedlich hiess. Ich wurde ins Zimmer 32 geschickt.
Natürlich war die Tür bereits zu, als ich ausser Atem im dritten Stock ankam. Wie konnte ich die Zahlen nur verwechselt haben? Früher hatte ich nie die Nerven verloren. Seit genau sieben Monaten und zehn Tagen war aber nichts mehr wie früher.
Ich klopfte an und trat ein. Wie zuvor auf dem Schulhof verstummten die Schüler, als sie mich erblickten. Als Erstes sah ich den Typ, der draussen gepfiffen hatte. Ein Grinsen breitete sich auf seinem langen Gesicht aus. Er deutete auf den freien Platz neben sich. Demonstrativ richtete ich meine Aufmerksamkeit auf das Mädchen vor ihm. Ich nahm nur froschgrüne Kreolen wahr.
«Nicole Ritzi?», fragte ein Mann vor der Wandtafel.
Das musste Friedlich sein. Sein Name täuschte. Mit seinem kantigen Schädel sah er alles andere als friedlich aus. Er zeigte auf einen leeren Stuhl in der vordersten Reihe. Über meine Verspätung sagte er nichts. Ich spürte die Blicke der anderen im Rücken und zog die Schultern hoch. Wie eine Schildkröte sass ich da. Auf einmal erinnerte ich mich an meinen allerersten Schultag. Ich war sieben gewesen, und mein Vater hatte mich bis zum Klassenzimmer begleitet. «Sei einfach du selbst», hatte er gesagt, «dann werden dich alle lieben.» Mit einem tiefen Atemzug richtete ich mich auf und tat so, als würde ich mich auf den Unterricht konzentrieren.
«Wie ist es gelaufen?», fragte meine Mutter durch die verschlossene Tür.
Die Nachbarin nebenan liess wieder ihre furchtbare Akkordeonmusik laufen.
«Nicole?»
Ich hielt mir die Ohren zu, doch ich hörte das Akkordeon trotzdem.
«Mach die Tür auf!»
Ich schaltete mein Smartphone ein und drehte die Lautstärke voll auf. Die Boxen, an die ich das Telefon angeschlossen hatte, waren so gut, dass ich den Bass in den Fusssohlen spürte. Früher hatte ich nur R&B gehört, ab und zu etwas Pop, doch die vertrauten Songs weckten zu viele Erinnerungen. Punk Rock passte viel besser zu meiner Stimmung. Und ärgerte meine Mutter mehr.
Obwohl das Fenster offen stand, war es stickig im kleinen Raum. Ich stützte die Ellenbogen auf das Fenstersims und betrachtete den Feierabendverkehr. Eine Abgaswolke schwebte über der Strasse. Unter mir lehnte sich eine Latina gegen die Mauer, ein Bein angewinkelt. Ihr enger Minirock verdeckte wahrscheinlich kaum ihr Höschen. Ich beobachtete, wie sie einen Spiegel aus ihrer Handtasche klaubte und die Lippen leuchtend rosa nachzog. Sie spürte meinen Blick und sah hinauf. Mit einem Auge zwinkerte sie mir zu.
Meine Mutter hatte endlich aufgehört zu klopfen. Ich liess mich aufs Bett fallen und starrte an die vergilbte Decke. Mam war immer noch sauer, dass ich das Gymnasium geschmissen hatte. Doch weder ihre Tränen noch ihr flehender Blick konnten mich umstimmen. Mam machte immer auf Opfer. Wenn ich aber nicht mehr mit meinen Freundinnen aufs private Gymnasium durfte, würde ich gar nicht gehen.
Die Akkordeonmusik war verstummt. Nun drang ein Poltern aus der Wohnung nebenan. Ich regte mich nicht. Erst als mein Smartphone 19 Uhr zeigte, schaltete ich die Musik aus und schloss meine Zimmertür auf. Jetzt hatte ich die Wohnung für mich alleine. Bis zwei Uhr früh putzte Mam in der Innenstadt Büros. Wie jeden Abend stand das Essen bereit. Es roch nach Tomatensauce, und mein Magen knurrte. Doch ich rührte die Teigwaren nicht an. Stattdessen holte ich meine Schulsachen und setzte mich an den Küchentisch. Mein Zimmer war zu klein für einen Schreibtisch. Wie ich dieses Loch hasste!
Draussen bog ein Wagen mit quietschenden Reifen um die Ecke und beschleunigte. Ich versuchte, das Fenster zu schliessen. Um den Riegel drehen zu können, musste ich mich mit der Schulter gegen den Rahmen stemmen. Dann wandte ich mich meinen Hausaufgaben zu.
Bereits in der zweiten Lektion hatte ich von der Projektwoche erfahren. Fünf Tage lang würde die ganze Schule Klima- und Umweltthemen durchnehmen. Zu zweit mussten wir Vorträge halten. Die Themen waren bereits vor den Ferien zugeteilt worden. Ich musste den Platz einer Schülerin einnehmen, die weggezogen war. Diese hatte sich ausgerechnet für Recycling entschieden. So etwas Ödes! Meine Partnerin war Julie, das Mädchen mit den Kreolen. Sie sprach ihren Namen französisch aus, obwohl sie heute in Französisch nicht gerade brilliert hatte. Für nächsten Montag hatte sie einen Besuch bei einer Recyclingfirma organisiert. Darüber sollte ich mir nun Gedanken machen. Lustlos kaute ich auf meinem Bleistift herum.
Noch immer war es drückend heiss. Ich fächerte mir mit dem Aufgabenheft Luft zu. Meine Augenlider wurden schwer, und vor mir sah ich das Gesicht meines Vaters. Wir waren auf der «Grazia», wo uns eine kühle Brise entgegenwehte. Mein Vater sass im Schatten des Grosssegels, die Hand auf dem Pinnenausleger. Wir planten unseren Segeltörn durch die Balearen.
«Nic», sagte er plötzlich. «Nenn mich doch von jetzt an Mark. Papa klingt so alt.»