Und ein letztes: Diese relativ pauschale Kritik an unserer Gesellschaft und ihren Mitgliedern mag viele verärgern, doch in meinen Augen muss sie unbedingt stattfinden, ehe es um die Maßnahmen zur Veränderung gehen kann. Ich kann mich selbst in keiner Weise aus dieser Kritik herausnehmen, als Angehöriger einer schrumpfenden, gut verdienenden Mittelschicht, die mit ihrer Konsumweise, ihrer Passivität und vor allem ihrer kritiklosen Beteiligung an den Mechanismen unseres Finanz- und Wirtschaftssystems einen wesentlichen Anteil an den Missständen auf unserem Planeten hat. Noch viel, viel mehr Menschen aus unseren einflussreichen Kreisen (ja, auch wir Normalbürger haben Einfluss! Darüber wird noch zu reden sein…) müssen sich und der Öffentlichkeit eingestehen, dass wir aktuell auf der falschen Seite der Geschichte stehen, wir aber mit Mut und Entschlossenheit diese Situation fundamental verändern können. Kein resigniertes Achselzucken, kein Verharren bei wichtigen, aber zunächst kosmetischen Korrekturen wie dem Griff ins Bio-Regal oder einer Spende an eine Wohltätigkeitsorganisation. Da geht mehr, viel mehr! Und wir haben es in der Hand – das soll die Message am Ende dieses Buches sein, diese Erkenntnis hoffe ich bei der Leserschaft hervorzurufen, nicht ein schlechtes Gewissen oder neuen Ärger über einen weiteren Nörgler aus der Gutmenschenriege.
Daher soll es im letzten Teil dieses Buches ganz konkret darum gehen, wo wir, die „einfachen“ Bürgerinnen und Bürger einer wohlhabenden Exportnation, Möglichkeiten haben, an den problematischen Strukturen unserer Wirtschaft und Politik etwas zu ändern. Das ist mein Hauptanliegen: aufzuzeigen, dass wir als Einzelne deutlich mehr Macht haben, etwas an den bestehenden Verhältnissen zu ändern, als uns suggeriert wird. Ich will Beispiele geben, an denen wir uns orientieren können, und – in Abgrenzung zu den vielen Büchern, Blogs und Artikeln, in denen allein die Probleme analysiert und Appelle an die unerreichbare Entscheidungselite formuliert werden – ganz konkrete Möglichkeiten auflisten, die ohne Umschweife ergriffen werden können.
1 Inspirierende Gedanken in dieser Richtung, die mir gleichzeitig auch bei diesem Buch eine große Hilfe waren, finden sich bei Albert Nolan in „Radikale Freiheit“, Publik Forum Verlag.
2 Die gemeinnützige Rechercheplattform corrective.org hat im Dezember 2019, unterstützt durch Frontal21, inkognito ein Rechercheteam bei einer Veranstaltung eines Netzwerkes von Klimawandelleugnern eingeschleust. Parallel zur in Madrid stattfindenden Klimaschutzkonferenz wurden bei diesem geschlossenen Treffen, das vom US-amerikanischen Thinktank „Heartland Institute“ geleitet wurde, Strategien besprochen, wie die öffentliche Meinung gegen Klimaschutzmaßnahmen beeinflusst werden kann. Unterstützt wird das Heartland Institute von reichen Unternehmern wie den Koch-Brüdern, die aus geschäftlichen Gründen eine Abkehr von fossilen Energieträgern ablehnen. Teilnehmende des Treffens waren unter anderem Vertreter eines dubiosen Vereins namens EIKE aus Deutschland, der Klimawandelleugner in der Politik mit Argumenten versorgt, AfD- und UKIP-Mitglieder, aber auch Esoteriker und Ultrareligiöse, sowie eine 19-jährige Youtuberin, die als Aushängeschild der Bewegung aufgebaut werden soll, um sich ein modernes, authentisches Bild zu verleihen.
3 Hierfür lassen sich zahllose Beispiele aufführen; neben dem Verzehr von mit Antibiotika belastetem Geflügelfleisch, Pestiziden auf Obst und Gemüse oder mit Schwermetallen belastete Fischsorten ist seit einer Studie der Universität Wien aus dem Jahr 2018 auch erwiesen, dass sich bei den Studienteilnehmern quer durch alle sozialen Schichten und über alle Altersgruppen hinweg Mikroplastik im Darm nachweisen lässt.[1]
4 Die Betrachtung verschiedenster Statistiken über den Zeitraum der letzten 200 Jahre hinweg lässt hier keine Zweifel zu: Besonders seit der großen Beschleunigung, also der sich seit dem Ende des 2. Weltkrieges enorm verstärkenden Industrieproduktion, weltweit zunehmenden Bautätigkeiten und massiv gestiegenen Ausbeutung von Rohstoffvorkommen sowie Fischgründen, nehmen unter anderem folgende Indikatoren überproportional stark zu: der weltweite Wasserverbrauch, atmosphärisches Methan, CO2 und Distickstoffmonoxid, die Stickstoffbelastung der Küstengewässer, der Regenwaldverlust, die Meeresversauerung sowie der Verlust der Biodiversität.[2]
5 Hervorragende zusammenfassende Artikel hierzu finden sich im Atlas der Globalisierung – Welt in Bewegung, unter anderem „Zum Freihandel gezwungen“ und „Börsen, Banken, Derivate“ von Ulrike Herrmann oder „Geld auf Knopfdruck“ von Aaron Sahr.[4] Tiefergehende Beschäftigung mit der sogenannten Dependenztheorie, die besagt, dass Unterentwicklung der Staaten der Peripherie einerseits und die Prosperität der reichen Industrieländer andererseits zwei Seiten ein- und desselben Prozesses sind, bieten deren Vertreter, u.a. André Gunder Frank, Enrique Dussel und Dieter Senghaas.
2. Schlaglichter und blinde Flecken
„Ich würde bis ans Ende der Erde gehen, wenn ich könnte, um immer wieder zu sagen, dass ich in die junge Generation Vertrauen habe.“
- Frère Roger Schutz
„Wenn wir nicht unsere volle Verantwortung für die Welt, in der wir leben, anerkennen, haben wir kein Recht, darin zu leben.“
- Mahatma Gandhi
Am 25. November 2018 ließ Alexander Gerst, der damalige Kommandant der internationalen Raumstation ISS, eine Videobotschaft ausstrahlen, mit der er sich an seine Enkelkinder und die kommenden Generationen wandte: „Wenn ich so auf den Planeten runterschaue, dann denke ich, dass ich mich bei euch entschuldigen muss. Im Moment sieht es so aus, als ob wir, meine Generation, euch den Planeten nicht gerade im besten Zustand hinterlassen werden. Im Nachhinein sagen natürlich viele Leute, sie hätten davon nichts gewusst. Aber in Wirklichkeit ist es uns Menschen schon klar, dass wir den Planeten mit Kohlendioxyd verpesten, dass wir das Klima zum Kippen bringen, dass wir Wälder roden, dass wir die Meere mit Müll verschmutzen, dass wir die limitierten Ressourcen viel zu schnell verbrauchen und dass wir zum Großteil sinnlose Kriege führen. Und jeder von uns muss sich an die eigene Nase fassen und überlegen, wohin das gerade führt. Ich hoffe sehr für euch, dass wir noch die Kurve kriegen und ein paar Dinge verbessern können. Und ich würde mir wünschen, dass wir nicht bei euch als die Generation in Erinnerung bleiben, die eure Lebensgrundlage egoistisch und rücksichtlos zerstört hat.“[1]
Unterlegt mit beeindruckenden Bildern der Erde aus vierhundert Kilometern Höhe, gab Gerst