- 1.Korinther 4, 7
Zunächst: Wie komme ich zu einem so hochtrabenden und zugleich abgegriffenen Titel wie „Befreiung“? Wer oder was bedarf denn der Befreiung? Dazu nur einige wenige Worte:
In erster Linie wird in diesem Buch von Befreiung auf gesellschaftspolitischer Ebene die Rede sein. Auf der Hand liegen dürfte, dass viele Menschen außerhalb der Machtzentren und Metropolen dieser Welt in Unfreiheit leben – jener Teil der Weltbevölkerung, der in der Peripherie der großen Weltpolitik, im Schatten der auf knackige Schlagzeilen zielenden Berichterstattung seinen Lebensunterhalt bestreitet. Das Leben dieser Menschen, oder besser gesagt: ihr Überleben hängt ab von Machtfaktoren, auf die sie keinerlei Einfluss haben. Auch klimatische Verwerfungen treffen sie härter als die Bürgerinnen und Bürger wohlhabender Industrienationen. Diese Menschen haben Anspruch auf Befreiung aus dem Abhängigkeitskomplex, der ihnen von anderen, nämlich den einflussreicheren Mitgliedern der Weltgemeinschaft über Jahrhunderte hinweg aufgebürdet wurde.
Befreit werden muss im erweiterten Sinne auch unsere natürliche Umwelt, die Pflanzen- und Tierwelt unseres Planeten, die vom kapitalistischen Wachstumsexzess als reiner Rohstoff- und Nahrungslieferant versklavt wurde, und deren Zerstörung letztlich auch das Leben der Sklavenhalter immer stärker beeinträchtigen wird.
Am wenigsten einsichtig ob ihrer Unfreiheit und der daher notwendigen Befreiung dürften die Verantwortlichen und Nutznießer dieser Machtkomplexe sein, also wir, die Bevölkerung der Industrienationen, die faktisch allen Regionen unseres Planeten durch unsere Art zu wirtschaften, zu konsumieren und Einfluss auszuüben einen unbarmherzigen Stempel aufgedrückt haben – bewusst oder unbewusst. Auch wir müssen aus diesem System befreit werden: zu unserem Wohle, zum Wohle von Millionen von Menschen, denen wir nie persönlich begegnet sind, deren Leben wir aber durch unsere Lebensweise beeinflussen, und zum Wohle unseres einzigartigen, wunderbaren Planeten, unserer Heimat, für die es auf absehbare Zeit keinen Ersatz geben wird. Wir müssen befreit werden aus dem Hamsterrad des Dauerkonsums, der unsere ökonomischen sowie mentalen Ressourcen in Anspruch nimmt, ohne Widerspruch zu dulden. Gelenkt von Werbeindustrie und eingebunden in ein scheinbar alternativloses politisch-wirtschaftliches System, werden wir uns unsere Unfreiheit nur ungern eingestehen. Befreiung kann also nicht nur gesellschaftspolitisch und ökologisch, sondern gewissermaßen auch auf geistlich-persönlicher Ebene stattfinden. Obwohl es in diesem Buch weniger um philosophisch-geistliche Kategorien geht – wie die Befreiung des menschlichen Potentials aus seiner konsumorientierten Versklavung, oder die geistliche Befreiung des Menschen aus der Unfreiheit eines entartet-entfremdeten Daseins – , zielt die äußere Befreiung von Mensch und Natur letztlich auch auf eine innere, spirituelle Ebene. Das dürfte aber eher Thema eines anderen Buches werden.1
Wir sprechen hier also in erster Linie über äußere Formen von Freiheit und Unfreiheit. Wenn es um die Personengruppen geht, die dabei im Mittelpunkt stehen, greife ich der Einfachheit halber oft verallgemeinernd auf übergeordnete Begriffe wie Arme, Marginalisierte, Bürgerinnen des globalen Südens auf der einen Seite und (Einfluss-)Reiche, Bewohner der Industrienationen oder auch des Westens bzw. globalen Nordens auf der anderen zurück. Dabei ist mir bewusst, dass eine unreflektierte Schwarz-Weiß-Einteilung problematisch ist und dass die Grenze zwischen „gut“ und „böse“ selten scharf gezogen werden kann. Selbstredend gibt es unendlich viele Schattierungen und Gegenbeispiele, die sich diesen Kategorien entziehen: Es gibt den verantwortungsbewussten Vorstandsvorsitzenden, der sich bemüht, eine an ethischen Maßstäben orientierte Unternehmenspolitik zu betreiben. Es gibt die vielen mitteleuropäischen Angestellten in mehr oder weniger prekärer Lohnsituation, die sich als Verlierer der Globalisierung primär um persönlich-existenzielle Probleme kümmern müssen und deren globaler Einfluss auf den ersten Blick nichtig erscheinen mag, die aber in ihrer großen Zahl durch ihr Konsumverhalten eben doch negativen Einfluss auf die Menschenrechts- und Umweltsituation in den Ländern des globalen Südens ausüben. Es gibt den armen südostasiatischen Kleinbauern, der trotz des Bewusstseins für die Folgen von konventioneller Einmalbewirtschaftung an der Erosion von Boden und Landschaft in der Region seines Heimatlandes mitwirkt. Und so weiter. Eine pauschale Einteilung der Weltgesellschaft in Verantwortliche und Geschädigte kann einer differenzierten Problemanalyse zwar nicht vollständig gerecht werden, dennoch lässt sich nicht abstreiten, dass globale Probleme Ursachen haben, die zunächst in recht groben Rahmen zusammengefasst werden müssen, um als solche identifiziert und – hoffentlich – gelöst werden zu können. Und auch um aufzuzeigen, wie vielfältig die Möglichkeiten der Einzelnen sind, um die angesprochene Befreiung zu erreichen, komme ich um die eine oder andere etwas allgemeine Kategorisierung nicht umhin. Ich hoffe, der wesentliche Inhalt dieses Buches rechtfertigt ein solches Vorgehen.
Außerdem liegen meiner Argumentation zwei Tatsachen zugrunde, die ich als unbestreitbar ansehe: den negativen Einfluss unserer auf ungebremstem Wachstum basierenden Wirtschaftsweise auf das Ökosystem unseres Planeten sowie den Zusammenhang von konzentriertem Reichtum in den Händen weniger Individuen und Massenarmut in vielen Ländern.
Die Frage, wie groß der Einfluss des Menschen auf den sich bereits vollziehenden Klimawandel ist, führt seit Jahrzehnten zu kontroversen Debatten. Doch an der Tatsache, dass unsere Lebensweise einen negativen Einfluss sowohl auf das Weltklima als auch das Ökosystem Erde generell hat, rüttelt mittlerweile kaum noch jemand, der nicht gerade aus geschäftlichen Interessen oder anderen persönlichen Egoismen einen Umbau unseres Wirtschaftssystems ablehnt.2 Speziell die Frage, wie groß der Einfluss des vom Menschen (direkt wie indirekt) produzierten CO2s auf die Erderwärmung ist, mag noch nicht im letzten Detail geklärt sein, doch niemand kann heute noch leugnen, dass unser gedankenloser Konsum seit der Industrialisierung weltweit die Lebensräume zahlreicher Tierarten zerstört hat und die Artenvielfalt reduziert, dass die Meere in vielen Teilen überfischt und zugemüllt sind (und wir – bittere Ironie – längst unseren eigenen Dreck fressen)3, dass in städtischen Ballungsgebieten häufig (vermeidbare!) gesundheitsschädliche Luftverhältnisse herrschen, und dass sich das Klima verändert, mit je nach Sichtweise größerem oder kleinerem Einfluss des Menschen (der Grad und das Ausmaß der Veränderung des Weltklimas seit der Industrialisierung im Gegensatz zu den Schwankungen in den verschiedenen früheren Epochen unseres Planeten ist auf alle Fälle nicht zu leugnen).4 Die allermeisten kritischen, weil langfristig unumkehrbaren Umweltschäden unserer Zeit haben ihre Ursache in menschlichem Wirken. Diese Tatsache darf als gegeben vorausgesetzt werden angesichts der seit der Industrialisierung sich immer stärker beschleunigenden negativen Parameter; sie weiterhin in jeder Diskussion verteidigen zu müssen käme mir vor, als diskutierten wir auch heute noch darüber, ob nicht doch die Sonne sich um die Erde dreht. Ja, sie zu leugnen, ist in meinen Augen in höchstem Maße gefährlich und verantwortungslos. Zeit für diese fruchtlosen Debatten bleibt uns nicht mehr. Wer der überwältigenden Mehrheitsmeinung der Wissenschaft dennoch skeptisch gegenüber steht, der dürfte zumindest diesem ironischen Kommentar eines Youtube-Nutzers wenig entgegen zu setzen haben: „Wir könnten jetzt etwas gegen den Klimawandel tun, aber wenn wir dann in 50 Jahren feststellen würden, dass sich alle Wissenschaftler doch vertan haben und es gar keine [menschgemachte] Klimaerwärmung gibt, dann hätten wir völlig ohne Grund dafür gesorgt, dass man selbst in den Städten die Luft wieder atmen kann, dass die Flüsse nicht mehr giftig sind, dass Autos weder Krach machen noch stinken und dass wir nicht mehr abhängig sind von Diktatoren und deren Ölvorkommen. Da würden wir uns schon ärgern.“
Ebenso die zweite Tatsache: Das Wirtschaftswachstum der reichen Länder, das Hand in Hand geht mit immer noch zunehmender Ungleichverteilung des Wohlstandes, hat unmittelbar die Ausbeutung und Verarmung von Menschen in weniger entwickelten Ländern zur Folge (auch in den reichen Ländern, gewiss, doch die extreme Armut in vielen Regionen der südlichen Hemisphäre mit der Armut in Deutschland zu vergleichen, wäre doch unverhältnismäßig – wir kommen aber auch auf die wachsende soziale Ungleichheit in den westlichen Ländern noch zu sprechen!).5 Ja, auch hierlässt sich über Einzelfälle streiten: Hat der Erwerb einer neuen Adidas-Sporthose den gleichen „Impact“ wie der Kauf eines NoName-Produktes bei Primark, durchläuft sie dieselbe ungerechte und womöglich unökologische Wertschöpfungskette? Ist wirklich jedes elektronische Gerät, das ich erwerbe, in