Gäßler stand im Türrahmen und beeilte sich, zuzustimmen, auch wenn er an dem wolkenverhangenen Morgen nichts Wunderbares finden konnte. Er fürchtete, der Schultheiß könne ihn zu Rate ziehen und fragen, welche der beiden Hosen er wählen sollte. Das wäre ihm mehr als unangenehm. Der Schultheiß stand im Hemd vor dem Spiegel, das war heikel genug!
Gäßler hatte darauf verzichtet, sich seine Belohnung sofort zu genehmigen, und war in die Mühlgasse zurückgeeilt, wo Würth in einem ansehnlichen Backsteinhaus wohnte. Er hatte indes nicht damit gerechnet, dass der noch mit Anziehen beschäftigt sein könnte. Geschweige denn, dass er ihn bat, ihm dabei Gesellschaft zu leisten. »Kein Wort bevor ich nicht angekleidet bin!«, hatte Würth ihm entgegengerufen, als dessen Magd ihn die Stufen zur Schlafkammer hinaufwies. Im Heraufgehen hatte er Weiberstimmen in der unteren Stube gehört, leises morgendliches Geplauder. Sicher hatten der Schultheiß und sein Eheweib wieder einmal Besuch. Dessen Haus war etliche Mal voll mit Verwandten aus Heidelberg. Mit ihrem auffällig städtischen Gebaren sorgten sie noch wochenlang hernach für Gerede.
»Ich war schon versucht, Euch wieder wegzuschicken«, tönte der Schultheiß gut gelaunt, als Gäßler nun einen Schritt hinein in die Stube wagte. »Es gibt schließlich Amtszeiten. Doch da Ihr zu diesen Euren rechtschaffenen Schlaf pflegt, lässt es sich auch so einrichten. Aber fasst Euch kurz, Gäßler, mir ist nicht nach Geschwätz zumut, zumal ohne Frühstück.«
Gäßler kam sich töricht vor, weil er schon wieder nicht wusste, wie er beginnen sollte. Die vielen Farben, das Anheimelnde der Schlafstube – vor dem Bett stand eine schmale Sitzbank mit gedrechselten Beinen, ein weiches Schaffell lag darauf, der Betthimmel bestand aus einem leuchtend orangen, dünnen Stoff, den er für Seide hielt, so genau kannte er sich damit nicht aus –, das Private des Ortes, es machte ihn verlegen. Er traute sich nicht einmal, nach dem Augspross zu fassen, um sich sicher zu fühlen. Aber zum Henker, er war da und würde seine Aufgabe zu Ende bringen.
»Es hat doch keine unbotmäßigen Geschehnisse gegeben in der Nacht?«, fragte Würth als sei ihm eben erst zu Bewusstsein gekommen, dass Gäßler ihn auch wegen etwas Unangenehmem aufgesucht haben könnte.
»Ich fürchte doch«, hob Gäßler an – und schon wehrte Würth gestenreich ab und gebot ihm zu schweigen. Er nahm das rehbraune Wams vom Bett, hielt das rostrote Beinkleid dazu und entschied sich dafür. Er schlüpfte in die Hose und verfolgte seine Bewegungen in dem großen, goldumrahmten Spiegel.
Eitler Laffe, dachte Gäßler. Das Tuch von Würths Gewandung war edel, ein Mischgewebe, wie es die Niederländer herstellten, die seit geraumer Zeit die pfälzischen Lande überschwemmten. Der feine Herr Schultheiß hatte sogar Gänsefedern neben dem Nachtstuhl, der unter dem Bett zu sehen war. Der scheuerte sich den Hintern natürlich nicht mit frischem Sauerampfer wund. Und natürlich stand auf dem Kasten neben dem Bett ein Glaskelch mit rubinrot schillerndem Wein, der dampfend den Geruch von Nelken und Zimt verbreitete. Gäßler konnte an einer Hand abzählen, wann er je Gelegenheit gehabt hatte, solch einen Tropfen zu kosten.
»Wisst Ihr, Gäßler«, sagte der Schultheiß, während er wankend in das zweite Bein der Hose stieg, »ich kenne Hockenheim noch aus meiner Zeit als Kanzleischreiber. Man setzte mich bei den Inspektionsreisen zu den Zollstationen der Zent ein. Sie sagten, ich hätte gewandte und rechnerische Begabungen, die dabei von Nutzen wären. Tatsächlich erledigte ich meine Aufgaben sehr zufriedenstellend. Aber vor allem lernte ich die Kurpfalz kennen. Und ich kann Euch versichern, ich liebe diesen Flecken Erde. Auch wenn meine Landsmänner zuweilen eng denken. Ihr stures »So hott’s schunn mein Vadder g’macht« kann ich nicht mehr hören. Vor allem als Zugezogener hat man keinen leichten Stand. Neue Verordnungen oder auch nur eine neue Sichtweise …« Würth sprach nicht zu Ende und winkte ab.
Gäßler wusste nicht, was Würth mit seinen Ausführungen wollte. Er unterdrückte einen Furz, spürte selbst das Gesicht, das er dabei schnitt, und überlegte, wie er zu dem überleiten konnte, um dessentwillen er hergekommen war.
Aus der Wohnstube im Erdgeschoss brandete Gelächter herauf. Es klang nach dem eigentümlichen Lachen, das Weiber schüttelte, wenn sie unter sich waren und sich über Dinge lustig machten, von denen Männer nichts verstanden.
Gäßler hasste diese Art Lachen, aber der Schultheiß schien es zu genießen. Er schmunzelte und tönte munter: »Wieder einmal Schwesternbesuch aus Heidelberg. Zu uns aufs Land nennen sie es. Kennt Ihr Heidelberg, Gäßler? Nein? Sei’s drum, was kann ich nun für Euch tun?«
Obwohl er überlegt hatte, wie er die Rede drauf bringen sollte, kam ihm jetzt die Aufforderung des Schultheißen zu plötzlich. Er räusperte einen Kloß im Hals fort und sagte: »Es ist wegen der Heilmännin, Schultheiß.« Er streifte Würths Blick. Zum Henker, schon wieder war er irritiert. Dieser rote Ring um die grauen Augen Würths – ging das mit rechten Dingen zu? Jedes Mal kam ihm das Bild eines glühenden Eisenrings auf einem Knäuel grauer Wolle und jedes Mal hörte er fast das Knistern, mit dem der Eisenring die Wolle versengte, wenn er dem Schultheiß in die Augen sah.
Würth schien ihm gar nicht zuzuhören. Er knöpfte das Wams – natürlich waren die Knöpfe aus zart schimmerndem Perlmutt –, zog es an den Schößen in Form und drehte sich vor dem Spiegel nach rechts und links, um sein Gesamtbild zu betrachten. »Wisst Ihr«, sagte er versonnen, »meinem Weib gefällt es, wenn ich ansprechend gewandet zum Frühstück erscheine.«
Tja, und für diese Vorlieben hätte deine bescheidene Besoldung auch gar nicht ausgereicht, du roter Ziegenbock, dachte Gäßler. Dorothea, des Schultheißen holde Gemahlin, stammte aus einem wohlhabenden Handelshaus in Heidelberg. Ihres Vaters Geschäfte mit Gewürzen und Spezereien aus Indien und der neuen Welt sicherten ihr – und ihrem Eheherrn – ein beträchtliches Polster. Man munkelte, dass sie ihm vergangenes Jahr zu seinem Geburtstag einen kunstvollen Schaukasten aus goldbraunem Kirschbaumholz und Glas hatte fertigen lassen, damit er seine Kupferstiche darin aufbewahren konnte, die er sich zum Teil von weit her schicken ließ. Wenn dem so war, hatte Würth ihn jedoch nicht hier in der Schlafstube aufgestellt.
Würth ging hinüber zu dem kleinen Kasten für Kleinodien neben dem Bett, mit diesem leichten Hüftschwung, der ihm eigen war, diesem sanften Schlendern aus seiner Mitte heraus. Er steckte seinen Ring an den Finger, drehte sich zu ihm um und fragte schließlich: »Was ist mit der Heilmännin?«
Das kam erneut so unvermittelt, dass Gäßler auch diesmal Mühe hatte, den Anschluss zu finden. Ohnehin fragte er sich schon geraume Zeit, ob er es überhaupt schaffen würde, mit dem Schultheiß über diese Sache zu reden, oder ob er nur als Beiwerk für dessen eitle Ankleiderei diente.
»Es zerschlägt der Hagel seit Jahren die Frucht auf den Fluren. Schlimm wie nie zuvor. Die Sommer sind feucht und kühl, das Korn verschimmelt in den Scheuern. Die Hexensekte, Schultheiß, ist dafür verantwortlich«, sagte er.
»Ich ahnte, dass es Euch darum geht. Die Heilkundige des Ortes soll mit dem Leibhaftigen im Bunde sein. Auch ich habe dergleichen gehört. Ich hätte Euch jedoch nicht zu jenen gezählt, Gäßler, die allen Schund glauben, den man ihnen auftischt. Schließlich stellt Ihr Euch dem Dämon Nacht, wenn ich das so sagen darf, Ihr wisst, dass diese nur dunkel ist, nichts weiter.«
Gäßler schluckte.
»Viele Belange des dörfliches Zusammenlebens unterliegen meiner Aufsicht. Die Zollstation ist gewachsen und bedeutsamer geworden, die Einnahmen sind zu überwachen, desgleichen die Fron, Ortsgericht ist zu halten, die Classicalkonvente zu besuchen – all das ist viel genug und jetzt behelligt Ihr mich zudem mit einer Sache, die es nicht gibt. Ihr raubt mir meine Zeit.«
Gäßler dachte an seine Aussprache mit Eigner und gab sich einen Ruck. »Aber … ich hab gesehen, wie sie geradewegs zum Schornstein raus ist!«
Würth bedachte ihn mit einem Blick, als habe er ein Ungeheuer mit fünf Köpfen vor sich. Seine grauroten Augen schienen Feuer zu sprühen. »Das habt Ihr nicht!«, schnaubte er.
Gäßler wurde unwohl. Trugbilder oder wahr? Sein Hirn war gänzlich schwammig, noch immer pochte