Adele eilte nach vorne, suchte nach der passenden Gelegenheit und hob ihre Waffe. Der kalte Beton des Parkplatzes und die Sicherheitsbarriere bildeten eine harte Oberfläche, gegen die Jason Masses Schulterblätter einmal aufschlagen ließ und ein zweites Mal, als er versuchte, sich zu erheben. Doch Jason schlug zu und kratzte dem Agenten fast die Augen aus.
„Runter von ihm!“, rief Adele. Dann schoss sie.
Masse schrie erschrocken auf. Hernandez jedoch stöhnte vor Schmerz, taumelte wie ein Kreisel und ging neben dem Agenten, den er angegriffen hatte, zu Boden.
„Für’s erste war das nur der Arm“, schnappte Adele, die Waffe weiterhin auf Hernandez gerichtet. „Kämpf‘ weiter und der nächste geht in deine Brust, verstanden?”
Das Geräusch des Fluchens und Weinens verklang aus Jasons Richtung, wo er hin- und herrollte, seine Zähne blitzten, als sie vor Schmerz zusammenknirschten und er drückte seinen Kopf gegen den rauen Bürgersteig. Rote Blutströme färbten seine Finger. Alle paar Augenblicke blickte er von seinem verletzten Arm weg, drehte sich zu seinem dampfenden Lastwagen um und schüttelte den Kopf erneut vor Angst.
Adele seufzte und legte dann ihre Hand an ihr batteriebetriebenes Funkgerät. „Wir brauchen einen Krankenwagen“ sagte sie.
Sie warf einen Blick auf ihren Partner, der immer noch wackelig auf den Beinen war und auf Hernandez, der sich vor Schmerzen immer noch am Boden wandt. Sie seufzte wieder.
„Mach besser zwei daraus.“ Dann ging sie mit einem Augenrollen und Handschellen in der Hand auf Jason zu.
KAPITEL ZWEI
Adele atmete erleichtert aus, als sie endlich das Knarren der Scharniere ihrer Haustür hörte, die sich langsam hinter ihr schloss. Vier Stunden mit lächerlichem Papierkram und Befragungen später war Adele froh, wieder zu Hause zu sein.
Sie schaltete das Licht ein und blickte in den kleinen Raum, während sie ihre Schultern nach hinten kreisen ließ, um einem plötzlichen Schmerzimpuls entgegenzuwirken. Adele blickte ihre Taille hinunter und bemerkte zum ersten Mal einen roten Fleck auf ihrer weißen Bluse unter ihrem Anzug.
Sie runzelte die Stirn. Wieder zuckte sie zusammen, während sie ihre kleine Wohnung durchsuchte und schließlich vor ihrer Küchenspüle resignierend ihre Bluse vorsichtig unter ihrem Gürtel hervorzog.
Ein neuer Ort. Der Mietvertrag war jeweils auf nur zwei Monate begrenzt. Es war zu teuer gewesen, in ihrer alten Wohnung zu bleiben. Nachdem Angus ausgezogen war, hatte Adele allein einfach nicht mehr genug verdient, um die Miete oberhalb des Durchschnitts aufzubringen, die Angus und seine Kodierfreunde problemlos bezahlen konnten. Nun, da sie nach Brisbane umgezogen war, stellte sie fest, dass ihr der Wechsel nichts ausmachte. Es war nicht laut – wofür sie ihren Nachbarn wohl danken sollte – obwohl die Wohnung nicht viel mehr als eine Küche, einen Fernseher und ein Schlafzimmer mit eigenem Bad hatte. All das, sogar der Fernseher, roch ein wenig modrig.
Es war ohnehin nicht so, dass sie viel Zeit zu Hause verbrachte.
Adele zuckte erneut zusammen, als sie ihre Bluse aus dem Gürtel zog und den langen Kratzer auf ihrer Haut untersuchte. In der Erinnerung, wie es dazu gekommen war, verzog sie das Gesicht. Zweifellos hatte sie mit dem Maschendrahtzaun Bekanntschaft gemacht.
„Verdammte Neulinge“, murmelte sie etwas angestrengt.
Agent Masse war jung. Er hatte erst vor wenige Monaten seine Ausbildung beendet. Adele bezweifelte, dass sie bei ihrem ersten Einsatz viel besser gewesen war, aber dennoch… es war katastrophal gewesen. Sie vermisste John. Das letzte Mal, als sie sich getroffen hatten, war die Situation etwas unangenehm gewesen. Sie erinnerte sich an das nächtliche Schwimmen in Roberts Privatpool. Die Art und Weise, wie John versucht hatte sie zu küssen und die Art und Weise, wie sie fast reflexartig zurückgesprungen war.
Adele runzelte die Stirn bei diesen Gedanken und wünschte sich sofort, sie könnte ihn zurücknehmen. Stattdessen griff sie nach einem sauberen Stück Küchenpapier von der Theke und begann, heißes Wasser laufen zu lassen. Sie öffnete den Schrank über dem Kühlschrank und schnappte sich eine Flasche Franzbranntwein. Sie tupfte sie gegen das Handtuch und drückte das behelfsmäßige Desinfektionstuch an ihre Rippen, wobei sie erneut zusammenzuckte.
Sie ging in Richtung des einzigen Stuhls in der Küche, während sie sich gegen den halbhohen Tisch lehnte und mit dem Gesicht zur Wand hin Platz nahm, wobei sie das stark riechende Papiertuch gegen ihren Kratzer tupfte. Endlich, als sie sich zurücklehnte, stieß sie einen langen Atemzug aus.
Geistesabwesend blickte sie über ihre Schulter zur Tür. Zwei Riegel und ein Kettenschloss schmückten den Metallrahmen, Überbleibsel von den Vormietern.
Der Stuhl knarrte, als sie sich einen Ellbogen gegen den Tisch lehnte und auf die glatte Holztischplatte starrte. Sie bewegte sich wieder, allein schon wegen des Geräuschs. Die Wohnung war so still. Als sie noch mit Angus zusammengelebt hatte, lief immer eine Fernsehsendung oder ein Podcast, der aus seinem Zimmer dröhnte, während er an einem Projekt arbeitete. In den paar Wochen, die sie mit Robert in Frankreich verbracht hatte, befand sie sich oft im selben Zimmer wie ihr alter Mentor und genoss seine Gesellschaft am Kaminfeuer, während er ein Buch las oder durchs Radio Konzerte hörte.
Jetzt aber, in der kleinen, stickigen Wohnung in San Francisco… war es wieder so ruhig.
Adele bewegte sich noch einmal und lauschte dem Knarren und Protesten des schlecht konstruierten Stuhls. Ein Satz aus ihrer Kindheit, einer der Lieblingssätze ihres Vaters, kam ihr in den Sinn. "Einfache Dinge erhellen einfache Gemüter." In einer Art Phantomprotest wackelte Adele an dem Stuhl, hörte ein letztes Mal dem seltsam tröstlichen Knarren des Holzes zu, bevor sie die Zähne zusammenknirschte und das behelfsmäßige Desinfektionstuch immer noch gegen ihre Wunde drückte. Dann stand sie wieder auf und stapfte den Flur hinunter.
„Vermaledeiter Renee“, murmelte sie.
Jason Hernandez hätte nie abhauen können, wenn John da gewesen wäre. Sie vermisste Frankreich. Nach dem Interview mit Interpol hatte sie einige Zeit mit Robert verbracht. Eine schöne Zeit – auf ihre eigene Art erfrischend. Es hatte ihr Gelegenheit gegeben, nach dem Mörder ihrer Mutter zu suchen.
Adele öffnete die Badezimmertür am Ende des Flurs und betrachtete sich im Spiegel. Es war ein kleines, beengtes Badezimmer. Die Dusche reichte aus, da Adele seit fast sechs Jahren kein Bad genommen hatte. Duschen war viel effizienter. Der Sergeant – ihr Vater – hatte wahrscheinlich sein ganzes Leben lang kein einziges Mal gebadet.
Sie seufzte erneut, als sie sich auszog, in die Dusche stieg und das heiße Wasser aufdrehte, aber der Sprühstrahl war immer noch nur lauwarm. Ein weiterer kleiner Makel der neuen Wohnung. Der Wasserdruck war auch nicht großartig, aber es musste reichen.
Als Adele unter dem lauwarmen Nieselregen stand, schloss sie ihre Augen und ließ ihre Gedanken schweifen, vorbei an den Ereignissen des Tages, der letzten paar Monate in den USA.
Worte tanzten ihr durch den Kopf.
"Ehrlich gesagt, es ist komisch, dass du Paris verlassen hast, weißt du das? Besonders wenn man bedenkt, wo du gearbeitet hast.”
Sie seufzte, als das Wasser ihr Haar durchtränkte und begann, in langsamen, ungleichmäßigen Strömen über ihre Nase und Wangen zu tropfen, passend zu den unkoordinierten Strahlen aus dem Duschkopf. Dennoch hielt sie ihre Augen geschlossen und grübelte immer noch über diese Worte nach. Sie hallten in ihrem Kopf wider – manchmal sogar, wenn sie schlief.
Das hatte der Mörder gesagt.
Zurück in Frankreich. Ein Mann, der seine Opfer aufgeschlitzt hatte und zusah, wie sie hilflos und allein verbluteten. Sie und John hatten den Serienmörder gefasst, aber nicht bevor er ihren Vater fast ermordet hatte. Er hatte auch Adele fast getötet.
Der Bastard hatte den Mörder ihrer Mutter angebetet. Ein weiterer Mörder – es gab so viele von ihnen.
Adeles runzelte die Stirn unter dem Wasserstrom, als sie ihre Hände zu Fäusten ballte und ihre Knöchel gegen den kalten, glatten weißen Kunststoff hämmerte, der vorgab, Porzellan zu sein.
John