„Stopp!“, rief sie.
Aber er hielt nicht an. Wieder entdeckte sie etwas Metallisches, das er in seiner rechten Hand hielt. Ein Messer?
Ein guter Schuss. Sie hatte ihn im Visier. Aber nein, er war unbewaffnet. Die meisten Mörder brauchten allerdings auch keine Waffen, um gefährlich zu sein. Der mutmaßliche Mörder, korrigierte sie sich erneut selbst. Adele senkte ihre Waffe und raste an ihrem Partner vorbei, der sich immer noch von dem Schmerz erholte, den die Tür in seinem Gesicht hinterlassen hatte. Aus seiner Nase strömte Blut und er sah benommen aus, während er noch immer auf dem Boden saß und sein Kinn massierte.
Adele stürmte an ihm vorbei und schrie: „Er haut ab!“ Sie rannte zum Ende des Ganges, ohne sich umzusehen. Sie konnte keine weiteren Schritte hören, die ihr folgten, was darauf hindeutete, dass ihr neuer Partner zumindest für eine Weile außer Gefecht war. Adele dehnte nochmals ihren Kiefer, bevor sie die metallene Wendeltreppe erreichte und gleich drei Stufen auf einmal nahm, um so schnell wie möglich unten anzukommen.
Schusswaffen waren nicht ihre Stärke. Aber Kriminelle zu finden schon. Flink wie ein Wiesel tänzelte sie spielendleicht die Treppe hinunter und sah zu, wie Jason auf die Straße rannte.
Adele verlor ihn aus den Augen, als sie das Ende der Treppe erreicht hatte und sich ebenfalls in Richtung Straße bewegte. Aber nach ein paar Schritten zögerte sie, hielt kurz inne und legte keuchend neben dem bräunlichen Gestrüpp, das den Pool säumte, eine Pause ein.
Würde Jason wirklich über die belebte Straße fliehen? Die Leute würden ihn erkennen. In diesem Teil der Stadt gab es viel Polizei und ebenso viele Kontrollen. Jason wusste das. Ihre Gedanken kehrten zu dem metallischen Gegenstand zurück, den sie in seiner Hand entdeckt hatte. Ein Messer? Nein. Eine Waffe? Zu klein.
Ein Schlüssel. Das musste es sein.
Ihre Augen blickten kurz zurück in Richtung des Flurs vor den Zimmern des Motels. Die Schlüssel zum Motel? Nein. Sie hatten eine Schlüsselkarte benutzt. Sie wandte sich von der Straße ab, ihre Augen erfassten die Länge des zweiten Gebäudekomplexes des Motels, um den der Verdächtige verschwunden war. Würde er umkehren?
Autoschlüssel – etwas anderes kam doch nicht in Frage, oder? Jasons Truck stand auf dem Parkplatz des Motels; sie hatten ihn auf dem Weg hierher gesehen.
Adele nickte sich selbst zu und dann, anstatt auf die Baulücke zwischen den Gebäuden, die zur Straße führte, zuzulaufen, drehte sie sich um und sprintete in die entgegengesetzte Richtung. Der Parkplatz des Motels befand sich hinter den Gebäuden, war mit einem großen Holzzaun gesichert und wurde an allen vier Ecken von neuen roten Müllcontainern mit schwarzen Deckeln begrenzt.
Es war nur eine Vorahnung, aber manchmal war eine Ahnung alles, was ein Agent haben musste.
Adele konnte Sirenen in der Ferne hören, aber sie waren immer noch schwach. Sie war auf sich allein gestellt. Sie blickte über ihre Schulter zurück in Richtung Treppe und bemerkte, wie ihr Partner langsam nach unten kam und sich ihr mit einem noch benommenen Blick auf dem Gesicht, Kopf schüttelnd näherte. Er taumelte ein wenig und das Blut strömte immer noch aus seiner Nase.
Adele seufzte verzweifelt, als sie in Richtung des Parkplatzes lief. Sie hüpfte über eine weitere kleine Hecke, dankbar für all die Zeit, die sie morgens mit Joggen verbrachte. Sie passierte die Rezeption und kam dann an einem Maschendrahtzaun und einem roten Müllcontainer vorbei, der hinter den Büros stand. Der Geruch von zwei Wochen altem Müll wehte in der Luft und setzte sich in ihrer Kleidung fest. Sie ignorierte den Geruch und stöhnte, als ein hervorstehender Balken des Zauns ihren Anzug erwischte; ein leises Aufreißen, ein kurzer stechender Schmerz. Aber sie riss sich zusammen und ignorierte das Loch in ihrem Outfit.
Adele hockte sich zwischen den Maschendrahtzaun und den stinkenden Müllcontainer, bevor sie kurz aufstand und den großen schwarzen Lastwagen mit hervorstehenden Spiegeln anstarrte. Das Fahrzeug parkte auf halber Strecke zwischen ihr und zwei Lücken weiter hinter einem Minivan.
Die Vordertür des Trucks stand offen.
Jason krabbelte bereits auf den Fahrersitz. Er warf einen Blick in ihre Richtung, fluchte dann lauthals, bevor er die Vordertür zuschlug und seine Schlüssel in die Zündung steckte. Sie hörte ein dumpfes Rasseln und eine Reihe von Flüchen auf Spanisch.
Sie hob ihre Waffe und richtete sie auf das Fenster. „Bleiben Sie stehen oder ich schieße!“, rief sie.
Aber Hernandez ignorierte sie. Er fummelte weiter an den Schlüsseln herum. Endlich sprang der Motor an. Jason starrte sie aus dem Fenster mit panisch weit aufgerissen Augen an. Seine Schlangentätowierung am Hals pulsierte merklich und dicke Adern ragten aus seinen Schläfen.
Er murmelte etwas, das sie durch die geschlossene Scheibe nicht hören konnte und legte dann den Gang ein. Er trat das Gaspedal voll durch. Die Reifen quietschten und der Truck schoss nach vorn und kollidierte fast mit dem Gebäude. Jason fluchte unhörbar und legte den Rückwärtsgang ein, bevor er über seine Schulter blickte.
Im Gegensatz zum Motel war Jasons Truck in einwandfreiem Zustand. Die Fenster waren sauber und der Truck selbst hatte keinen einzigen Kratzer und keine einzige Delle. Einige der Augenzeugen, die gesehen hatten, wie Hernandez seinen angeblichen Opfern nach Hause folgte, hatten behauptet, alles habe begonnen, als Mr. Carter Jasons Truck beinahe hinten auffuhr.
Adele hielt ihre Waffe am Abzug und stand fest mit abgespreizten Schultern und Füßen am Boden. „Stopp, FBI!“, rief sie.
„Agent Sharp!“, rief eine Stimme über ihre Schulter. Für den Bruchteil einer Sekunde zuckte sie zusammen und blickte zurück.
Masse stolperte durch das Gebäude, das Jason am nächsten lag – offensichtlich war er außenherum über die Straße gekommen und war den längeren Weg gegangen. Aber jetzt bedeutete das, dass er näher am Truck war als sie. Masse entdeckte Jason; die Augen des jungen Agenten weiteten sich und er erhob seine Waffe.
„Warten Sie!“, brüllte Adele.
Aber Masse hatte bereits drei Kugeln abgefeuert. Zwei trafen die Motorhaube des Trucks, die dritte zerschlug beide Scheiben, wobei sie die eine durchlöcherte und die andere komplett zerbrach. Keine von ihnen traf Jason Hernandez.
Aber durch das nun überall verstreute Fensterglas konnte Adele Jasons Gesichtsausdruck durch den leeren Fensterrahmen des Lastwagens genau erkennen.
Er fummelte nicht mehr am Lenkrad oder an der Zündung herum. Er starrte durch das zerbrochene Glas, seine Augen weit aufgerissen und so blass, als hätte er einen Geist gesehen. Er starrte auf die zerbrochenen Glasscherben und dann wanderten seine Augen über die Motorhaube seines Wagens in Richtung der beiden Einschusslöcher in der Front seines geliebten Fahrzeugs.
„Puta!“, schrie er. Hernandez krabbelte über den Sitz und riss die Beifahrertür auf, bevor er hinausstolperte. Er befand sich nun auf der zu Adele gegenüberliegenden Seite des Fahrzeugs, näher an Masse.
Adele versuchte Haltung zu bewahren, stöhnte aber vor Frustration; sie hatte den Augenkontakt verloren. Sie bewegte sich schnell, immer noch mit kontrollierten Bewegungen und versuchte, die beiden Größen im Blickfeld zu halten, während sie hastig über den Parkplatz schritt.
Jason ging auf Agent Masse zu und ignorierte die Waffe, die ihm ins Gesicht gehalten wurde und Adele, die sich ihm von hinten näherte. Als sie sich neu positionierte, sah Adele flüchtig seinen Gesichtsausdruck: Jasons Augen waren geweitet, die Blutgefäße in seinem Nacken und auf seiner Stirn waren kurz vorm Explodieren.
„Kavron!“, schrie er und blickte von seinem zerstörten Truck auf den FBI-Agenten, der auf ihn geschossen hatte. Die Waffe in Masses noch immer zitternden Händen, schien ihm völlig gleichgültig zu sein.
Adeles Anweisung zu warten, schien bei Masse erst jetzt angekommen zu sein. Sein Zeigefinger war immer noch am Abzug, aber er schien eingefroren. Er wartete, zögerte, lies seinen Blick zwischen Adele und der sich nähernden Gestalt von Hernandez hin und her gleiten. Er zögerte eine Sekunde zu lange.
„Nein, nicht!“, rief Adele, aber zu spät.
Jason