Adele widersetzte sich dem Drang ihm einen finsteren Blick zuzuwerfen. Ihre Augen verengten sich, glitten über ihre eigene Dienstwaffe, mit der sie in Richtung des zweiten Stockwerks des Motels zielte. Zu ihrer Rechten bildete nur ein dünnes, klappriges weißes Geländer, das zudem noch halb verrostet war, eine prekäre Barriere zwischen dem Flur, in dem sie stand und dem darunter liegenden Innenhof. Die Verstärkung ließ auf sich warten- über Funk hatte sie mitbekommen, dass aufgrund eines bewaffneten Überfalls an einer Tankstelle, die meisten Einheiten in der Gegend umgeleitet worden waren. Aber sie konnten nicht warten. Hernandez hatte sich in der Vergangenheit als unbeständig erwiesen. Im Moment hatte sie nur Masse und ihre eigene Vorahnung.
Adele blickte über das Geländer auf den rechteckigen Pool hinunter; das unnatürlich blaue Wasser reflektierte das verbleibende Abendlicht in sanften Bewegungen auf der Oberfläche. Ein Sprungbrett auf der gegenüberliegenden Seite befand sich direkt neben einer metallenen Einstiegsleiter. Der beißende, aufsteigende Chlorgeruch in der Luft vermischte sich mit dem Gestank der vorbeifahrenden Autos der benachbarten Straße. Durch die Lücken zwischen den beiden Gebäudeblöcken des Motels konnte man flüchtige Blicke auf die parkenden Autos erhaschen.
„Konzentration“, murmelte Adele leise.
Sie stand mit dem Rücken gegen die Holzfassade des billigen Motels gepresst und fühlte, wie der Staub ihren Nacken herunter rieselte, aber sie ignorierte es. Sie bahnte sich ihren Weg, weiter an der Wand entlang gleitend, in Richtung ihres Ziels. Eine Frau schaute auf der anderen Seite des Hofes aus einem Fenster und beobachtete wachsam die sich nähernden der FBI-Agenten.
Adele warf der Frau aus der Ferne einen Blick zu und schüttelte leicht den Kopf. Die Person duckte sich sofort und verschwand wieder hinter dem mit fettigen Fingerabdrücken übersäten Fester, aus dem Blickfeld der Agenten.
Agent Masse folgte dicht hinter Adele, die ihre Aufmerksamkeit wieder auf Zimmer A7 richtete. Sie warf ihrem neuen Partner einen finsteren Blick zu. „Vorsicht“, murmelte sie im Flüsterton.
Masse hob besänftigend die Hand und löste seinen Griff wieder von seiner Dienstwaffe. Innerlich unterdrückte Adele ihre Frustration. So streitsüchtig er auch war, eines konnte man über John Renee sagen: Er verachtete Amateure. Jetzt, zurück in San Francisco, stellte Adele fest, dass sie den großen französischen Agenten mit dem Narbengesicht vermisste.
Rein professionell, natürlich. Aber natürlich. John war ein ausgezeichneter Schütze, zuverlässig, wenn er sich in Gefahr befand, und – was am wichtigsten war – er würde nicht immer wieder von hinten in sie hineinrennen, wenn sie sich direkt vor dem Motelzimmers eines Mörders befanden.
„Würden Sie bitte damit aufhören?“, flüsterte sie schließlich nach dem dritten Knie das versehentlich in ihrem Oberschenkel gelandet war, während beide die Treppe hinaufschlichen.
„Entschuldigung“, sagte Agent Masse, ein bisschen zu laut.
Adele versteifte. Aus dem Inneren von A7 glaubte sie Schritte zu hören. Sie starrte auf die Tür, ihr Puls dröhnte ihr in den Ohren. Dann verstummten die Geräusche.
Adele wartete und befeuchtete den Rand ihrer Lippen, ihre Ohren spitzten sich, ihre Augen waren auf den silbernen Türgriff unter dem Kartenscanner gerichtet.
Jason Hernandez wurde in zwei Fällen verdächtigt, seine Opfer barbarisch ermordet zu haben. Adele hatte die Woche zuvor die toxikologischen Berichte durchgesehen. Jason hatte seine Opfer mit Methamphetamin vollgepumpt, bevor er sie im Wohnzimmer ihrer eigenen Wohnung zu Tode geprügelt hatte.
Angeblich sagte sie zu sich selbst und Bilder schossen ihr durch den Kopf. Sie stellte sich karminrote Flecken auf einem kunstvoll gemusterten türkischen Teppich vor. Sie erinnerte sich an die entsetzten Gesichtsausdrücke des Reinigungspersonals, das Jasons Tat gefunden hatte. Und natürlich waren die Verbrechen in den Hills geschehen. Ein reiches und berühmtes Paar wird ermordet? Keine Chance liebes Morddezernat, hallo, FBI.
Adele nickte zur Tür und hob ihre Waffe. Ihr neuer Partner zögerte.
Sie versuchte nicht mit den Augen zu rollen, sondern sagte in einem energischen Flüsterton: „Schlüsselkarte. Beeilung!”
Agent Masse erstarrte wie ein Hirsch im Scheinwerferlicht. Der junge Agent starrte neben Adeles Gesicht in die Luft, bevor ihre Worte endlich bei ihm ankamen. Er bewegte sich nun zu schnell, als wolle er die verlorene Zeit aufholen, eilte an ihr vorbei und schlitterte dabei an dem verrosteten weißen Geländer zum Pool hin, entlang. Seine Hand schnellte dann zu seiner rechten Tasche, wo er mit dem Verschlussknopf zu kämpfen hatte.
Adele starrte ihn ungläubig an.
Masse errötete und murmelte Sorry, während er immer noch an seinem Knopf herumfummelte. Er schien es nicht fertig zu bringen ihn zu öffnen. Mit einem Ruck steckte Masse seine Waffe in den Holster, griff mit beiden Händen nach oben und knöpfte die Tasche auf. Schließlich zog er, immer noch mit der Waffe im Holster, die Schlüsselkarte heraus, die ihm der Motelangestellte gegeben hatte. Mit noch zitternder Hand schob der junge Agent die Karte in die Tür. Ein kleines grünes Licht blinkte über dem L-förmigen Griff auf.
Masse trat zurück, sein junges Gesicht musterte Adele.
Sie nickte in Richtung seiner Hüfte.
Wieder sah sie in ein leeres Gesicht.
„Ihre Waffe“, sagte Adele, durch zusammengebissene Zähne.
Masses Augen weiteten sich, er zog schnell seine Waffe ein zweites Mal aus dem Holster und richtete sie auf die Tür. Die Fenster zu Zimmer A7 waren geschlossen und die Vorhänge dunkelten das Zimmer vollständig ab.
„Er ist bewaffnet und gefährlich“, sagte Adele außer Atem. Normalerweise schien der zweite Teil dieses Satzes überflüssig, aber bei Masse konnte sie sich nie sicher sein. „Wenn Sie eine Waffe sehen, geben Sie ihm nicht die Gelegenheit sie zu benutzen. Verstanden?”
Agent Masse starrte sie an, zitterte, nickte aber. Adele schluckte und versuchte ihre eigenen Nerven zu beruhigen. Sie festigte ihren Griff und spürte die kalte, schwere Waffe in ihren Händen liegen. Sie bemühte sich, ihre eigene Aversion gegenüber ihrer Schusswaffe nicht anmerken zu lassen. Der Umgang mit Waffen war immer der ungeliebteste Teil ihrer Arbeit gewesen.
Masse nahm auf der gegenüberliegenden Seite der Tür Stellung. Mit einem eindringlichen Blick in ihre Richtung streckte er seine rechte Hand aus, mit der linken immer noch seine Waffe haltend, und drückte den Türgriff hinunter.
Die Tür schlug auf. Ein wilder Schrei ertönte von innen und jemand drückte sich von der anderen Seite gegen das Holz und ließ Masse taumeln.
Ihr Partner schoss einmal, zweimal – ohne zu zielen. Agent Masse stolperte durch den anhaltenden Schwung der Tür und fiel zu Boden. Die Kugeln trafen die Decke. Im Inneren des Motelzimmers war nun eine dunkle Gestalt zu erkennen, dessen Umrisse sich in Schatten auf dem Fußboden spiegelten. Die Person hielt etwas Metallisches in ihren Händen.
Eine Waffe?
Nein. Zu klein. Die Gestalt lief weder nach links noch nach rechts, sondern nahm stattdessen Anlauf, sprang mit einem Satz über das Geländer und stürzte sich in Richtung des darunter liegenden Pools. Adeles Fluchen ertönte gemeinsam mit einem lauten Platschen!
Adele positionierte ihre Waffe und machte drei schnelle, kontrollierte Schritte in Richtung des Geländers. Ihre Augen scannten den Pool, dann fasste sie die umliegende Hecke ins Auge. Sie richtete ihre Waffe auf die sich entfernende Gestalt unter ihr…
…und erkannte ihn sofort mit seinem kahlrasierten Kopf und dem Tattoo zweier in sich verschlungener Schlangen, die hinter seinen Ohren begannen und sich bis zum Ende seines Halses erstreckten. Die Zungen der beiden Schlangen bildeten einen Knoten zwischen seinen Schulterblättern. Jason Hernandez trug kein Hemd. Er hatte ein leichtes Bäuchlein und seine ausgebeulte Hose klebte nun klatsch nass an seinen Beinen, was ihn aber nicht davon abhielt sich mit einem lauten Stöhnen aus dem Wasser zu hieven, dann vom Rand zu robben und tropfnass und völlig außer Atem in Richtung Hecke zu humpeln. Am Ende stolperte er über die knackenden Äste, landete im Gebüsch, bevor er – auf Spanisch fluchtend – wieder auf die Beine