„Früher konnte man von hier bis zum Ziegelteich sehen. Dort drüben“, Frau Burger war neben Ulli getreten und zeigte auf eine dichte Hainbuchenhecke.
„Gunter meinte damals, als die Sache mit dem Kömen-Mädchen passiert war, man solle den Ziegelteich einfach zuschütten. Als wenn das etwas geändert hätte. ,Der Teich kann doch nichts dafür‘, habe ich immer gesagt. ,Und wenn die Sache erst vergessen ist, dann werden auch die Familien mit den Kindern wieder zum Teich kommen. ‘ Und genauso war es. Heute spielen die Kinder wieder dort, genauso wie ich als Kind schon am Teich spielte. Aber die spielenden Kinder kann man jetzt nicht mehr sehen, weil Gunter die Hecken gepflanzt hat. Aber was rede ich“, Frau Burger wandte sich vom Fenster ab, „ich wollte Ihnen doch Kaffee anbieten.“
Während Gertrud Burger das Esszimmer verließ und Paule sich auf einen der bequemen Stühle am Tisch niederließ, erkundete Ulli das Zimmer. Trotz der schweren, altmodischen Eichenmöbel wirkte der Raum hell und freundlich. Ein leichter Duft nach Lavendel lag in der Luft. Auf der breiten Fensterbank blühten Orchideen. Ulli trat zum Sideboard, auf dem eine ganze Fotogalerie liebevoll auf Häkeldeckchen aufgereiht stand. Sie hatte gerade ein Hochzeitsfoto hochgenommen, als Frau Burger zurückkehrte und ein großes Tablett mit Geschirr, Kaffee und einer Kuchenplatte auf dem Tisch abstellte. Sie gesellte sich zu Ulli und zeigte auf das Foto.
„Das ist Jürgen mit seiner Frau.“
Dann nahm sie ein Babyfoto in die Hand. „Und das ist die kleine Betty. Sie wird Ende September zwei Jahre alt. Vielleicht fahre ich dann zu Jürgens Familie nach Potsdam.“
Frau Burgers Blick ging zu einem anderen Foto, das eine junge Frau mit ihrem Freund zeigte. Die Frau schien ihre Tochter zu sein. So könnte sie vor dreißig Jahren ausgesehen haben, ging es Ulli durch den Kopf.
„Sind alle ausgeflogen, die Kinder. War wohl auch wegen der Sache mit Willi.“
Gertrud Burger stellte das Babyfoto zurück und seufzte. Sie verteilte Tassen und Teller auf dem Tisch und goss den Kaffee ein. Ulli folgte der Frau zum Tisch. Sie legte ihr Smartphone vor sich und fragte Frau Burger, ob sie zustimme, dass das Gespräch aufgezeichnet wurde. Frau Burger nickte. Später würde Ulli den Mitschnitt ins Präsidium schicken, wo er abgetippt und zur Ermittlungsakte hinzugefügt würde.
„Ihr Mann …“, Ulli hatte die Frage noch nicht ausformuliert, als Frau Burger schon abwinkte.
„Weg. Ausgezogen. Ein Jahr nach der Sache hielt er es hier nicht mehr aus. Ist nach Berlin. Hat dort im Transport eine Stelle bekommen. Er wollte mich mitnehmen, aber was soll ich in Berlin? Ich bin hier geboren und zur Schule gegangen. Das Haus von Willi ist unser Elternhaus. Als die Eltern tot waren, hat Willi mich ausbezahlt. Und uns beim Bauen geholfen. Dieses Haus ist fast wie das in der Torstraße. Wir haben damals viel Geld beim Architekten gespart. Wir lebten gut hier. Gunter und ich mit den Kindern. Und dann war die Sache mit der Kömen, und ein Jahr später waren alle weg.“
Trotzig richtete sich Gertrud Burger auf und straffte die Schultern. „Ich bin geblieben. Ich habe nichts verbrochen. Und Willi ist freigesprochen worden.“
„Ihr Bruder war ein Verdächtiger im Mordfall Kömen“, nahm Paule die Geschichte von Gertrud Burger auf.
Die alte Frau nickte. „Aber er wurde freigesprochen. Er hat immer gesagt, er sei unschuldig. Und sie konnten ihm nichts beweisen.“ Sie schaute durch das Fenster Richtung Ziegelteich. „Ich habe ihm immer gesagt: ,Lass die Finger von der Kleinen! Die taugt nicht zum Heiraten. ‘ Das hatte ihr damaliger Freund auch schon herausgefunden. Total verwöhnt. Einzelkind. Sie hat Willi nur ausgenutzt. Hat sich von ihm zur Arbeit mitnehmen lassen. Kein Wunder, dass die Polizei Haare von ihr in Willis Auto gefunden hat. Aber zum Heiraten war sie nicht. Nein!“
Entschlossen griff Frau Burger zum Kuchenmesser, schnitt mit energischer Geste zwei große Stücke Obsttorte ab und legte die Stücke auf die Kuchenteller.
„Hier, greifen Sie zu!“ Gertrud Burger schob Ulli einen Kuchenteller hin. „Wie gesagt, der Kuchen muss ja nicht verderben. Und Sie könnten ein paar Pfund mehr vertragen.“
Ulli nahm den Teller lächelnd entgegen und schob ihn zur Seite, während Paule sich beherzt dem Kuchen widmete. „Haben Sie die Eltern des Mädchen gekannt?“, fragte er beiläufig, anscheinend ganz mit der Obsttorte beschäftigt.
Frau Burger nickte. „Natürlich. Gerda Kömen und ich gingen zur gleichen Schule. Wir mochten uns ganz gerne, bis“, Frau Burger zögerte, „bis sie Willi den Mord anhängten. Wir hätten ihm ein falsches Alibi gegeben, hat sie mir später vorgeworfen. ,Immer noch besser, einen freigesprochenen als einen verurteilten Mörder in der Familie zu haben‘ meinte sie. Aber“, wieder straffte Gertrud Burger den Rücken, „was hätten wir denn sagen sollen? Wir waren uns nicht sicher, wann genau, also um wie viel Uhr, Willi hier weggegangen ist. War eher später als früher. Gut möglich, dass er zu der Zeit, als die Kleine ermordet wurde, noch hier war. Und wenn Zweifel da sind, dann muss man die auch aussprechen dürfen. Es ging schließlich um Mord“, Frau Burger nickte entschlossen, „und um meinen Bruder. Noch ein Stück?“
Gertrud Burger hatte sich Paule zugewandt, der nicht ablehnte, als ihm ein zweites Stück Obsttorte auf den Teller gelegt wurde.
„Gab es damals Drohungen von der Familie Kömen gegen Sie oder Ihren Bruder?“, fragte Ulli.
Frau Burger schaute wieder zum Fenster.
„Das alles ist jetzt schon zehn Jahre her. Stand am Donnerstag sogar in der Zeitung. Deshalb habe ich doch den Kuchen gebacken, um den Willi aufzuheitern. Er hat sich die Sache sehr zu Herzen genommen.“
„Dann haben Sie Ihren Bruder am Donnerstag noch gesehen?“, hakte Paule nach.
„Ich habe ihn nach der Arbeit angerufen. Ich wollte ihn zum Abendessen einladen. Er hatte ja sicher auch den Artikel gelesen. Aber er wollte seine Ruhe haben. Wenn er zum Abendessen gekommen wäre ….“ Frau Burger verstummte.
Ulli wiederholte ihre Frage. „Wissen Sie von Drohungen gegen Ihren Bruder? Damals oder in den letzten Tagen?“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Das hätte Willi mir nicht erzählt. Er hat nie über die Sache gesprochen. Aber der alte Kömen ist einmal ziemlich ausfällig geworden. Das ist aber schon ein paar Monate her. Auf dem Friedhof Diebsteich drüben. Ich hatte meine Eltern besucht, kurz vor Allerheiligen. Hatte eine Kerze und eine Pflanzschale vorbeigebracht. Astern. Und ich dachte, wenn du schon da bist, bringst du der kleinen Kömen auch ein paar Blumen. Als ich am Grab stand, ist Heinz Kömen gekommen und hat mich weggezerrt. Richtig grob ist er geworden. Ich solle die Finger vom Grab seiner Tochter lassen und mich schämen, wo ich doch den Mörder decken würde.“
„Und?“ Paule schob seinen leeren Kuchenteller beiseite, lehnte sich zurück und sah Gertrud Burger herausfordernd an: „Haben Sie den Mörder gedeckt?“
Die alte Frau zuckte zusammen, sie atmete tief durch und erwiderte Paules Blick: „Ich sage heute das Gleiche, was ich damals dem Richter gesagt habe: Ich kann mich an die genaue Uhrzeit nicht erinnern. Und außerdem: Was hätte es denn geändert? Die kleine Kömen wäre nicht mehr lebendig geworden. Und mein Bruder hat sich seit damals nichts zu Schulden kommen lassen. Er ist also bestimmt keiner von diesen perversen Triebtätern.“
Gertrud Burger war aufgestanden und begann, das Kaffeegeschirr auf das Tablett zu räumen. Dann hielt sie inne und schaute Paule herausfordernd an: „Glauben Sie mir: Ob schuldig oder nicht, wir alle haben für den Tod der Kleinen büßen müssen. Was damals geschehen ist, hat meine Familie zerstört, meine Kinder und meinen Mann aus Hamburg getrieben. Wir sind zurückgeblieben, Willi und ich. Willi war keine angenehme Gesellschaft all die Jahre. Aber was hätte ich denn machen sollen? Er war mein Bruder. Und was Willi da hatte, das war kein Leben mehr.“
Paule schnaubte verächtlich, verkniff sich aber einen Kommentar, als er Ullis warnenden Blick bemerkte.
„Können Sie sich außer der Familie Kömen noch jemanden vorstellen, der Ihren Bruder hasste?“, griff Ulli