„Nun komm schon“, Ulli drehte sich zu Rocco um, „am Montag kommt Frau Geese aus der Klinik. Dann gibt es wieder Leckerlies und Streicheleinheiten im Pförtnerhaus.“
Frau Geese war die Köchin und Haushälterin der von Schmalenbecks gewesen. Ulli kannte sie seit ihrer Kindheit. Ihr Vater hatte der Frau das Pförtnerhaus vererbt und eine großzügige Rente eingeräumt.
Sie passte auf Rocco auf, wenn Ulli zum Dienst musste. Ulli nahm sich vor, Frau Geese anzubieten, sich einige Erinnerungsstücke aus der Villa auszusuchen. Da klingelte ihr Handy und sie erkannte Paules Kurzwahl auf dem Display. Das hatte an einem Sonntag nichts Gutes zu bedeuten.
„Ulrike von Schmalenbeck.“
„Einen wunderschönen, guten Morgen, Frau Kollegin. Was immer Sie sich für heute vorgenommen haben, es muss warten. Die Schutzpolizei meldet einen Todesfall in der Torstraße, Bezirk Eimsbüttel, Stadtteil Stellingen. Männliche Leiche. Sebastian und Walter sind bereits im Einsatz, deshalb müssen wir einspringen.“
Ulli seufzte. Dann würde die Bibliothek wieder warten müssen. Dafür, dass man ihm gerade seinen freien Sonntag gestrichen hatte, klang Paule erstaunlich gut gelaunt. Dann fiel ihr ein, dass er mit den Wochenenden nicht mehr viel anzufangen wusste, seit seine Frau ihn vor einem Jahr verlassen hatte. Ulli dachte an ihre Sonntagspläne und erschrak, als sie bemerkte, dass ihr die Aussicht auf einen Mordfall auch angenehmer war, als die Bibliothek ihres Vaters auszuräumen. Vielleicht sollte sie doch dem Ratschlag von Petra Adler, der Polizeipsychologin, folgen und eine Entrümpelungsfirma mit dem Nachlass beauftragen. Aber das fühlte sich feige an. Sie wollte sich den Gespenstern der Vergangenheit stellen, um die Erinnerungen anzunehmen, zu betrachten, zu werten und dann selbst zu entscheiden, wovon sie sich endgültig trennen würde. Ulli war klar, dass dieser Weg der richtige war, um endlich mit ihrem Vater Frieden zu schließen. Aber jetzt hatte sie erst einmal eine Ausrede: die Arbeit.
„Soll ich dir die Adresse auf dein Handy schicken?“, die Stimme von Paule riss Ulli aus ihren Gedanken. „Ich habe die Kollegen von der Spusi bereits verständigt. Ich denke, wir treffen uns am Tatort.“
„Bin schon unterwegs.“
Ulli war mittlerweile an der Villa angekommen. Sie duschte, zog sich um und tröstete Rocco mit einem Leckerli. Der Schäferhund kroch beleidigt unter den Schreibtisch, als Ulli ihm frisches Wasser hinstellte und erklärte, dass er eine Weile allein bleiben musste. Sobald der erste Stock umgebaut war, würden die Solbergs dort einziehen. Das Ehepaar würde sich künftig um die Villa kümmern. Ulli hatte inzwischen eingesehen, dass sie es allein nicht schaffte. Dann wäre auch Rocco während ihrer Abwesenheit versorgt. Frau Geese liebte den Schäferhund zwar, aber sie war nicht mehr in der Lage, ihn regelmäßig Gassi zu führen. Ulli nahm die Autoschlüssel und ging aus dem Haus.
Nur fünfzehn Minuten später bog sie auf die A1 Richtung Hamburg ein. Das Navi gab fünfzig Minuten bis zur Torstraße in Stellingen an.
***
Als Ulli dort eintraf, parkte der weiße VW Polo am Straßenrand. Also war Paule schon da. Niemand sonst im Präsidium würde freiwillig den alten Polo mit den ausgeleierten Stoßdämpfern fahren. Paule hatte an dem kleinen Zweitürer einen Narren gefressen. Wenn er im nächsten Jahr in Pension ginge, so plante der Kommissar, würde er den Polo mitnehmen. Dafür wollte Paule sogar eine Garage anmieten.
Ulli betrachtete das unscheinbare, einstöckige Einfamilienhaus. Die schmutzige, ursprünglich weiße Fassade hatte dringend einen neuen Außenputz nötig, und das Satteldach war auch in die Jahre gekommen. Ein einfacher Jägerzaun begrenzte das kleine Grundstück. Lorbeerhecken boten Sichtschutz nach beiden Seiten. Graue Waschbetonplatten führten zur Eingangstür an der linken Seite. Der Rasen war gemäht, aber nicht sonderlich gepflegt. Blumen gab es keine, auch nicht an den Fenstern. Schwere Gardinen verwehrten den Blick ins Innere. Ulli schlüpfte unter dem rot-weißen Absperrband hindurch. An der Haustür stand der Polizist, der den Notruf entgegengenommen hatte.
„Männliche Leiche. Wilhelm Tieck. Hinten rechts, im Wohnzimmer. Ziemlicher Gestank. Er ist wohl schon länger tot. Die Schwester und ein Arbeitskollege haben den Toten gefunden. Sie warten in der Küche. Linke Tür. Die Schwester ist ziemlich mitgenommen. Wir haben ihren Hausarzt verständigt. Kollege Paulsen kocht gerade Kaffee.“
Ulli nickte, während sie die Schutzkleidung überzog.
„Todesursache?“
Der Polizist senkte die Stimme: „Schuss in die Stirn. Für mich sieht das nach einer Hinrichtung aus. Ein Arzt von der Rechtsmedizin ist schon vor Ort.“
„Einbruchsspuren?“
Der Kollege schüttelte den Kopf. „Auf den ersten Blick keine. Es gibt aber eine Hintertür, die in den Garten führt. Muss sich die Spusi noch ansehen. Die sind erst einmal im Wohnzimmer beschäftigt. Ziemlicher Betrieb da.“
Ulli nickte und ging an ihm vorbei ins Haus und dort direkt zum Wohnzimmer. Ein süßlich-stechender Geruch schlug ihr entgegen. Jana Nelsen vom Team der Spurensicherung war gerade dabei, Fotos vom Tatort zu machen. Ulli betrachtete das Opfer. Ein Streifen graues Gewebeband über seinem Brustkorb fixierte den Toten auf einem Stuhl. Die Füße waren mit dem gleichen Band an den Stuhlbeinen festgebunden. Ulli ging um den Mann herum und deutete auf die zusammengebundenen Hände hinter der Rückenlehne.
„Suizid können wir wohl ausschließen.“
Das Kinn des Opfers war auf seine Brust gesunken. Als Ulli sich bückte, um in das Gesicht des Toten zu schauen, konnte sie deutlich die Stanzmarke auf der Stirn erkennen. „Kontaktschuss?“, fragte sie, obwohl es ja eigentlich offenkundig war.
Oskar Klimm, der Rechtsmediziner, trat neben sie und nickte: „Austrittswunde am Hinterkopf. Er war vermutlich sofort tot. Das werden wir bei der Leichenöffnung zweifelsfrei klären. Projektil und Hülse haben wir bisher nicht gefunden. Aber wir fangen gerade erst an.“
„Kannst du schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen?“
Oskar zuckte mit den Schultern: „Ihr könntet euch auch einmal einen anderen Text überlegen. Du siehst selbst, der Herr wirkt nicht mehr frisch, die Todesstarre hat sich bereits wieder gelöst. Das erleichtert den Kollegen wenigstens den Abtransport.“
Der Rechtsmediziner hob vorsichtig das graue T-Shirt des Toten an und deutete auf die grünlich verfärbte Haut am unteren Bauchbereich.
„Die Farbe ist ein Zeichen der beginnenden Autolyse; das heißt, die Enzyme haben mit der Arbeit begonnen. Wie weit unser Freund schon marmoriert ist, kann ich dir sagen, sobald ich ihn auf meinem Tisch habe. Ich schätze mal, er ist mindestens seit achtundvierzig Stunden tot, eventuell auch länger.“
Ulli war an Oskars derbe Ausdrucksweise gewöhnt. Tatsächlich hatten fast alle Kollegen der Rechtsmedizin diese pietätlose Haltung gegenüber den Opfern. Vielleicht war das ihre Art, mit dem täglichen Grauen umzugehen. Ulli zeigte auf den zweiten Stuhl, der direkt vor dem Opfer stand.
„Offenbar hatte es der Täter nicht eilig. Das sieht nach einer längeren Unterhaltung zwischen Opfer und Täter aus. Hast du Folterspuren an der Leiche entdeckt?“
Oskar schüttelte den Kopf. „Nicht auf den ersten Blick. Wie gesagt: Wir sollten die Leichenschau abwarten.“
Ulli sah sich im Rest des Zimmers um. Nichts deutete auf einen Raubüberfall hin. Es gab weder herausgezogene Schubladen noch durchwühlte Schränke. Der fast quadratische Raum war karg und fantasielos eingerichtet – ohne Bücher in den Regalen und ohne Bilder an den Wänden. Ein großer, neuwertiger Flachbildschirm dominierte den Raum. Er wirkte auf dem rustikalen Sideboard deplatziert. An der gegenüberliegenden Wand stand ein zerschlissenes Sofa. Der niedrige Tisch war zur Seite geschoben worden, vermutlich, um Platz für die beiden Stühle zu schaffen. Auf dem Tisch entfaltete sich ein Stillleben, das auf einen einsamen Fernsehabend hindeutete: eine halbleere Flasche Bier, ein randvoller Aschenbecher sowie Zigaretten und Feuerzeug, ein Handy und ein Pizzakarton. Ulli hob vorsichtig den Deckel des Pizzakartons an. Dicke, fette Maden wanden sich im Tageslicht.
Oskar