„Der Tote ist Wilhelm Tieck. 53 Jahre alt, ledig. Lebte alleine. Seine Schwester und ein Arbeitskollege fanden ihn gestern Morgen tot in seinem Haus in der Torstraße. Todesursache war ein Schuss aus kurzer Distanz in die Stirn. Tatortfotos und den Bericht der Rechtsmedizin findet ihr im Computer. Die Rechtsmedizin kann eine zweite Todesursache ausschließen. Todeszeitpunkt ist vermutlich der Abend, beziehungsweise die Nacht von Donnerstag auf Freitag. Der Tote hat am Donnerstagabend eine Pizza bestellt, die laut Aussage des Pizzaboten um zwanzig Uhr geliefert wurde. Der Pizzabote vermutet, dass das Opfer alleine war. Zurzeit haben wir keinen Grund, an der Aussage des Zeugen zu zweifeln. Aber wir werden noch seinen persönlichen Hintergrund anschauen und die Fingerabdrücke abgleichen. Oskar hat uns bestätigt, dass der Tote nichts von der Pizza gegessen hat. Wir nehmen also an, der Täter betrat kurz nach dem Pizzaboten das Haus. Wann der Mord stattfand, lässt sich nur ungefähr eingrenzen. Die Leichenstarre hatte sich am Sonntagmorgen bereits gelöst. Wir können davon ausgehen, dass der Mord nach zwanzig Uhr am Donnerstagabend und nicht später als Freitagmorgen stattgefunden hat. Unser Pizzabote ist bisher der Letzte, der das Opfer lebend gesehen hat. Außer dem Täter natürlich. Keine Einbruchsspuren. Wir waren gestern Abend mit der Schwester des Toten noch einmal im Haus, um zu sehen, ob etwas gestohlen wurde. Von den wenigen Wertgegenständen im unteren Stock scheint nichts zu fehlen. Die Geldbörse des Opfers lag auf der Kommode mit sechzig Euro in Scheinen und etwas Kleingeld. Die Schwester meinte, ihr Bruder hatte nie viel Bargeld im Haus. Wir sind auch in den ersten Stock. Es schien, als habe das Opfer dieses Stockwerk nicht bewohnt, es eher als Lager benutzt. Die Schwester vermutete, dass da vorher einmal mehr Kisten waren. Aber sie wäre schon lange nicht mehr oben gewesen. In den Kisten bewahrte ihr Bruder nichts Wertvolles auf. Kleider, alte Spielsachen, Zeug ihrer Eltern. Dinge, die man nicht braucht, die aber zu schade zum Wegwerfen sind. Vielleicht hat Wilhelm Tieck einige Kisten entsorgt. Wir werden auf jeden Fall noch einmal die Spurensicherung ins Haus schicken, damit sie im oberen Stockwerk Fingerabdrücke nimmt.“
Ulli schaute kurz von ihren Unterlagen auf und sah direkt in die dunklen Augen von Sebastian Eisler. Sebastians zustimmendes Nicken schmeichelte ihr. Er hatte sicherlich kein Problem mit Frauen in Führungspositionen.
Ulli räusperte sich und gab Dirk ein Zeichen. Das Foto des Opfers, auf dem Stuhl fixiert, erschien auf der Wand hinter Ulli.
„Die Auffindesituation des Opfers legt nahe, dass es kein Raubmord war. Der Täter hatte vermutlich beide Stühle aus der Küche ins Wohnzimmer geholt.
„Sieht aus, als hätten sich die beiden unterhalten“, warf Kai ein, „vielleicht hat der Täter doch Geld im Haus vermutet und das Opfer unter Druck gesetzt, ihm das Versteck zu verraten.“
„Dagegen spricht, dass nichts in der Wohnung darauf hindeutet, dass der Täter etwas gesucht hat. Außerdem gibt es keinerlei Verletzungen am Opfer, die auf Folter hinweisen.“
„Also ein kleiner Plausch unter Freunden?“, überlegte Walter. „Wenn es keine Einbruchsspuren gab, dann muss Wilhelm Tieck seiner Mörder hereingelassen haben.“
„Woher weiß man, dass es nur ein Täter war?“ fragte Kai.
„Es stand nur ein weiterer Stuhl im Wohnzimmer. Die Art der Tat deutet ebenfalls auf einen Einzeltäter. Ich denke, wir sollten zunächst von einem Einzeltäter ausgehen. Und ja“, Ulli nahm die Anregung von Walter auf, „wir gehen zurzeit davon aus, dass Wilhelm Tieck seinen Mörder hineingelassen hat. Einen Schlüssel von der Haustür haben, laut Aussage der Schwester, nur sie und das Opfer. Allerdings gebe ich zu bedenken, dass es ein älteres Haus mit einer gewöhnlichen Haustür ist. Früher lebten dort die Eltern des Opfers mit dem Opfer und seiner Schwester. Es ist also gut möglich, dass noch mehr Schlüssel existieren.“
„Könnte die Schwester etwas mit dem Mord zu tun haben?“, fragte Kai.
Ulli schüttelte den Kopf.
„Ich glaube nicht. Sie schien ehrlich betroffen vom Tod ihres Bruders.“
„Konnte sie etwas zu einem möglichen Motiv sagen?“, fragte Kai weiter.
Ulli schüttelte wieder den Kopf.
„Der Tote lebte sehr zurückgezogen. Hatte kaum Kontakte zu anderen. Kein Verein, kein Freundeskreis. Er arbeitete seit mehr als zehn Jahren als Lagerist bei Schrauben Ziegler im Haferweg, keine fünfzehn Minuten von seinem Wohnhaus entfernt. Ein Arbeitskollege, Klaus Faas, hat den Toten gemeinsam mit der Schwester gefunden. Die beiden Kollegen waren verabredet. Als Wilhelm ihn versetzte und sich auch zwei Tage später noch nicht bei ihm gemeldet hatte, hat er die Schwester angerufen, und sie sind zum Haus gefahren. Die Schwester hat einen Schlüssel. Aussagen habt ihr im Computer. Wir müssen noch die übrigen Arbeitskollegen befragen. Aus den gegenwärtigen Lebensumständen scheint sich kein Motiv zu ergeben. Interessant ist der Hinweis auf einen Mordfall, der sich auf den Tag genau letzten Donnerstag vor zehn Jahren ereignete.“
Ulli schaute in die Runde. „Einige Kollegen werden sich noch daran erinnern. Unser Opfer wurde damals als mutmaßlicher Täter festgenommen, aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Am Donnerstag hat die Hamburger Aktuelle in einem Artikel zum zehnten Jahrestag des Mordes an Karin Kömen an den Fall erinnert. Walter ist mit den Ermittlungen vertraut.“
Walter gab Dirk ein Zeichen. Auf der Wand erschien das Foto einer jungen, blonden Frau. Sie war zeitlos in Jeans und Hemdbluse gekleidet und lachte in die Kamera.
„Das ist Karin Kömen“, begann Walter, „sie wurde in der Nacht des 22. August 2003 überfallen, misshandelt und vergewaltigt.“
Auf der Wand erschien ein Foto vom Tatort.
„Spaziergänger fanden ihre Leiche am Morgen des 23. August im Ziegelteich unweit des Hauses, in dem sie gemeinsam mit ihren Eltern wohnte. Karin Kömen war im Ziegelteich ertrunken. Vermutlich, als sie versuchte, vor ihrem Peiniger davonzukriechen. Die Rechtsmedizin stellte damals fest, dass darüber hinaus vermutlich auch ihre schweren Kopfverletzungen innerhalb weniger Stunden zum Tod geführt hätten. Nur eine direkte ärztliche Versorgung hätte das Opfer eventuell retten können. Karin Kömen hatte gemeinsam mit ihrem Freund, Bruno Dörfer, in einer Diskothek in der Innenstadt gefeiert, wo es gegen dreiundzwanzig Uhr zu einem Streit zwischen den beiden kam. Sie verließ die Diskothek alleine, um, wie ihr Freund vermutete, mit der S-Bahn nach Hause zu fahren. Die beiden S-Bahn-Stationen liegen unweit der Diskothek bzw. der Wohnung, weshalb der Freund, der in der Diskothek blieb, sich keine weiteren Gedanken über ihren Nachhauseweg machte. Als Karin Kömen gefunden wurde und die Polizei bei den Eltern vorsprach, wurde sie noch nicht vermisst. Die Eltern nahmen an, sie habe die Nacht bei ihrem Freund verbracht. Der Freund hatte übrigens für die vermutete Tatzeit ein Alibi, da er mit seiner Clique nach der Diskothek noch eine private Party besuchte und dort übernachtete. Er machte sich später große Vorwürfe, dass er Karin Kömen nicht daran gehindert hatte, alleine nach Hause zu fahren. Wilhelm Tieck, unser heutiges Mordopfer, rückte schon früh ins Visier der Ermittler. Als Lagerist bei Schrauben Ziegler kannte er Karin Kömen, die eine Ausbildung als Industriekauffrau gemacht hatte und seit ihrem Abschluss dort arbeitete. Zeugen sagten aus, Wilhelm Tieck habe schon lange ein Auge auf die junge Frau geworfen. Zu Beginn schien sein Interesse Karin Kömen zu schmeicheln. Sie ließ sich von Wilhelm Tieck öfter nach Hause fahren. Die Torstraße liegt nur ein paar Gehminuten von Karins Elternhaus entfernt. Karin Kömens Verhältnis zu Wilhelm Tieck war auch Ursache des Streites zwischen ihr und ihrem Freund. Bruno Dörfer hatte mehrmals verlangt, Karin müsse die unangemessenen Avancen des mehr als zwanzig Jahre älteren Wilhelm Tieck entschiedener zurückweisen. Wilhelm Tiecks Wagen wurde zu dem Zeitpunkt, als Karin Kömen die Diskothek verließ, mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Nähe gesehen. Zeugen sahen die junge Frau in einen grauen Kombi steigen. Die Polizei vermutete später, Wilhelm Tieck habe das Opfer zufällig auf der Straße getroffen und ihr angeboten, sie nach Hause zu fahren.