Genau da liefen Hitler und seine Entourage mit den Offiziellen der Olympischen Spiele in das Stadion, wo tausende Deutsche jubelnd die Nationalhymne sangen.
Es war ein mitreißender Moment, der Charlotte vor lauter Ergriffenheit zu Tränen rührte. Das Luftschiff Hindenburg flog niedrig über das Stadion und zog die olympische Flagge mit den fünf Ringen hinter sich her. Der Höhepunkt der Zeremonie war die Ankunft des olympischen Feuers, das den gesamten Weg vom griechischen Athen von über dreitausend Staffelläufern in zwei Wochen hergebracht worden war. Es war das erste Mal in der olympischen Geschichte, dass Staffelläufer das Feuer überbrachten. Charlottes Herz schwoll vor Nationalstolz an.
Es war auch das erste Mal, dass die Olympischen Spiele im Fernsehen übertragen wurden, wenngleich die Übertragung nicht sehr gut war. Es gab damals aber immerhin etwa zwei Dutzend Orte in Berlin, die Fernsehräume zur Verfügung stellten, in denen die Leute die Spiele mitverfolgen konnten.
Als die Zeremonie beendet war, machten sich die drei Frauen auf ihren Weg nach Hause und diskutierten angeregt ihre Eindrücke der Veranstaltung. „Was für ein Tag!“, seufzte Charlotte. „Und sah der Führer nicht großartig aus?“
„Aber natürlich“, kicherte ihre Großmutter. „Steck einen Mann in eine Uniform oder einen Smoking – und schwups, schon ist er gutaussehend, aber das macht ihn noch nicht zu einem großartigen Führer.“
„Omama!“ Beide Frauen waren erschrocken über diesen Kommentar.
„Wie kannst du nur so etwas sagen?“, fragte Charlotte entgeistert. „Du solltest lieber sichergehen, dass dich keiner hört!“
„Das ist genau das, was ich meine“, erwiderte das älteste Familienmitglied. „Wenn ich nicht sagen darf, was ich denke, dann ist dies kein guter Ort zum Leben.“
Charlotte und Oma waren ziemlich verstört von dem, was sie gehört hatten, aber bevor sie noch etwas sagen konnten, fuhr Omama fort: „Mein Arzt ist letzte Woche verschwunden. Er ist Jude. Meine Freundin Eva ist auch nicht mehr hier und Herr und Frau Goldschmidt, meine lieben Nachbarn sind ebenfalls weg; niemand weiß, wo sie sind.“
„Vielleicht sind sie im Urlaub“, bot Charlotte an. „Immerhin ist es August.“
„Möge Gott deine Unwissenheit bewahren, mein liebes Kind.“ Ihre Großmutter küsste sie auf die Wange. „Ich bin sicher, dass dir Albert die eine oder andere Sache dazu sagen kann.“
„Pst Mutter“, sagte Oma, „du bist immer so negativ. Ich bin mir sicher, dass es eine vollkommen logische Erklärung dafür gibt, wo dein Arzt und deine Freunde sind. Nun, lasst uns diesen großartigen Tag nicht vermiesen und lieber beim Café Kranzler für Kaffee und Kuchen vorbeischauen.“
Charlotte hatten die Bemerkungen ihrer Großmutter beunruhigt und als Albert nach Hause kam, fragte sie ihn, was er für einen Eindruck davon hat.
„Meine liebe Frau“, sagte er, während er sie in seine Arme schloss, „es gibt eine Menge Dinge, über die nicht gesprochen wird, aber das ist nun mal Politik. Ich möchte nicht, dass du dir deswegen Sorgen machst; es wird schon alles gut werden.“ Er beruhigte sie und versuchte gleichfalls, seine eigenen Zweifel zu zerstreuen. „Morgen gehen wir ins Olympiastadion und schauen uns die Leichtathletik-Veranstaltungen an. Und wir nehmen Gisela mit.“ Er hatte beide Kinder mit zurückgebracht.
Und wieder stürzten sich Albert und Charlotte in die aus tausenden Menschen bestehende Menge, die sich zum Stadion wälzte, gemeinsam mit der aufgeregten und pausenlos plappernden Gisela. Es war erneut ein trister und regnerischer Tag, aber der schwarzamerikanische Läufer Jesse Owens ließ nichts zu wünschen übrig: Er gewann insgesamt vier Goldmedaillen, stellte Weltrekorde im Weitsprung und im 400-Meter-Lauf auf. Er wurde augenblicklich weltberühmt, nicht nur in Berlin, und die Deutschen belagerten ihn in den Straßen für Autogramme.
Mit dem drohenden Regen als Vorwand verließ Hitler das Stadion, bevor er die drei amerikanischen Medaillengewinner im Hochsprung, zwei davon Schwarze, ehren konnte. Die Schiedsrichter waren aufgebracht und erklärten Hitler, dass er entweder alle oder keinen Medaillengewinner gratulieren darf.
Hitler entschied sich, keinen zu empfangen, darunter auch Owens. Albert war angesichts dieser offensichtlichen Brüskierung entrüstet, behielt seine Gedanken jedoch für sich. Er hatte noch nie zwischen Hautfarbe oder Religion unterschieden – jeder Mensch war wertvoll und verdiente Anerkennung für seine Errungenschaften und Tugenden. Das war ein grundlegendes menschliches Entgegenkommen.
Als sie das Stadion inmitten der vielen Menschen verließen, hatte sich der Nieselregen zu einem Wolkenbruch entwickelt. Sie hatten keinen Regenschirm. Albert wandte sich Charlotte und Gisela zu: „Nun, die Damen, sprinten wir los. Wie wäre es mit einem Besuch beim Café Kranzler?“
„Warum fragst du das noch?“, antwortete Charlotte, als Gisela rief: „Ja, Vati, los geht’s!“
Zu diesem Zeitpunkt waren Albert und Charlotte einfach glücklich, als sie Arm in Arm hinter Gisela, die ihnen voran die Straße entlanghüpfte, durch die Stadt schlenderten. Es war Zeit, das Leben mit seiner neuen Frau und ihren Kindern zu genießen.
Kapitel 7
Die Lufthansa vergrößerte sich sehr schnell und immer mehr neue Flugrouten kamen hinzu. Südamerika, der Mittlere Osten und Asien waren die neuesten Ziele. Das Jahr 1938 wurde mit 19,3 Millionen geflogenen Kilometern auf den europäischen Routen, insgesamt 254.713 Passagieren und 5.288 Tonnen transportierter Post das erfolgreichste Jahr in der Geschichte der Fluglinie. Die Nachfrage nach Junckers-Maschinen stieg dramatisch an und angesichts der erweiterten Angebote wurde die Ausbildung für technisches Personal dringend notwendig. Piloten, Flugingenieure, Mechaniker und Kabinenpersonal wurden stets für mehrere Monate ins Ausland kommandiert.
South African Airways, gegründet 1934, erwarb einige Junckers-Flugzeuge und musste ihr eigenes Personal ausbilden. Eine Gruppe Ausbildungspersonal wurde meist für mehrere Monate dafür aus Deutschland abgestellt. Johannesburg wurde somit schon bald zum Luftfahrtdrehkreuz der Nation, wobei wöchentliche Flüge nach Kapstadt hinzukamen.
Eines Tages verkündete Albert also, dass er nach Afrika gehen würde. „Ich werde für eine kleine Weile unterwegs sein“, teilte er Charlotte mit.
„Wie lange dauert so eine kleine Weile?“ Sie wusste selbstverständlich, dass längere Auslandsaufenthalte für das Ausbildungspersonal bestanden, und sie hoffte, dass das nicht für Albert galt.
„Der Außendienst beträgt immer vier Monate.“
„Vier Monate!“ Charlotte war bestürzt. „Ich nehme mal an, dass ich nicht mitkommen kann?“, fragte sie zögerlich.
Albert schüttelte den Kopf. „Nein, meine Süße, es gibt dort keine angemessenen Quartiere für Frauen. Viele Orte dort sind nicht einmal mit dem Nötigsten ausgestattet, ohne Toiletten und dergleichen. Außerdem wäre ich den ganzen Tag unterwegs, also was würdest du da tun?“, hob er an. „Nein, nein, das steht nicht zur Debatte. Ich muss auch alle meine Impfungen auf den neuesten Stand bringen, etwas, das du dann auch tun müsstest.“
Charlotte nickte langsam. „Ja, du hast recht, aber ich werde dich schrecklich vermissen. Ist es dort nicht gefährlich mit den wilden Tieren und Eingeborenen?“
„Ich denke nicht“, meinte Albert, „keine Angst. Ich werde dich auch vermissen, aber die Zeit wird schnell vergehen und bevor du es merkst, bin ich schon zurück. Und danach fahren wir lange in den Urlaub, nur wir zwei – versuche doch inzwischen ein passendes Reiseziel zu finden, irgendwo du gerne hinmöchtest.“
Charlotte dachte an ihr Alleinsein mit den zwei Kindern und einige der Herausforderungen, die sie erwarteten. Besonders Gisela strapazierte ihre Geduld in vielerlei Situationen. Sie hatte Probleme in der Schule, ärgerte ihren kleinen Bruder und widersetzte sich jeglicher Art Disziplin. Manfred hatte sich mit all der Liebe und Pflege die er erhalten hatte, gut entwickelt und war zu einem