Iron Annie. Lisa M Hutchison. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lisa M Hutchison
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347100657
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wurde die Stimmung gedrückt. „Mutti, ich wäre jetzt in der Universität, wenn Vati noch am Leben wäre“, meinte Charlotte leise.

      Charlottes Vater, ein Magistrat der Stadt Berlin, war plötzlich und völlig unerwartet im jungen Alter von nur 49 Jahren im Januar 1932 gestorben. Es war zwei Monate vor ihrem 18. Geburtstag gewesen und ihr Abitur hatte sie drei Monate danach erhalten. Ein Studium stand völlig außer Frage; dafür hatten sie kein Geld.

      Der Arbeitsmarkt in Deutschland war zu dieser Zeit sehr trostlos, und Armut und Elend grassierten überall. Obwohl Charlotte die Schule als eine der Klassenbesten abgeschlossen hatte, hatte sie nicht erwartet, eine Anstellung zu finden, erst recht nicht eine außergewöhnliche Position wie diese.

      Ihre Mutter war noch in Trauer, depressiv und untröstlich angesichts des Verlusts ihres geliebten Ehemanns. Sie überließ ihrer Tochter alle Entscheidungen. Ihr einziges Glück schien ihr sechs Monate alter Enkel, der Sohn ihrer älteren Tochter Johanna, zu sein. Hanni, wie sie immer genannt wurde, hatte vor einem Jahr geheiratet; sie und ihr Ehemann, der Polizist Max, lebten außerhalb von Berlin, besuchten sie aber oft.

      Charlotte war von Max nicht gerade begeistert und hatte sich einen besseren Partner für ihre liebe Schwester gewünscht. Max war ein herrschsüchtiger, überheblicher Mann, der sich in den Kopf gesetzt hatte, für seine Schwiegermutter und Charlotte der „Mann des Hauses“ zu sein. Er hatte gefordert, dass Charlotte eine Arbeit in einer Fabrik antreten und die Schule nicht beenden solle – eine Forderung, die Charlotte verärgert abgewehrt hatte. Wie es vorherzusehen gewesen war, hatte Hanni sich über Charlottes Entscheidung gefreut, während Max ihr die Karriere missgönnte.

      Dieser neue Arbeitsplatz war mehr, als sie sich jemals hätte erträumen können – es war eine traumhafte Stelle. Ein kleiner Teil der schnell wachsenden Fluglinie zu sein, während das Fliegen nur den Reichen und Berühmten vorbehalten war, der Oberschicht eines jeden Landes, war aufregend und bisweilen atemberaubend. Jeden Tag erzählte sie ihrer verblüfften Mutter von den Leuten, die sie getroffen und mit denen sie gesprochen hatte. Für eine so junge Frau wie sie war es eine unglaubliche Erfahrung. Eines Tages brachte sie ein Handtuch heim, das von ihrem liebsten Filmschauspieler, Willy Birgel, benutzt worden war, ein Handtuch, an dem sie lange sehr hing. Sie lebte den Traum einer jeden jungen Frau.

      Nicht nur war es ihr vergönnt, zahllose Filmstars, Sänger, Führer, Politiker, Adlige und fremdländische Würdenträger kennenzulernen, sondern erhielt auch jeder einzelne Pilot seine Flugpläne höchstpersönlich aus ihren Händen. Es war unvermeidbar, dass die meisten der wenigen Mädchen, die dort arbeiteten, Liebeleien hatten und ihre zukünftigen Ehemänner in der Truppe gutaussehender Flugoffiziere kennenlernten.

      Charlotte war eine hübsche Frau mit angenehmer Persönlichkeit, ausgeglichen und höflich, mit hohen Moralstandards und Integrität. Über die Jahre wurde sie zur hochgeschätzten rechten Hand des Flugdirektors, Franz Schlenstedt. Er hielt ein wachsames Auge auf die flirtenden Männer und warnte sie öfters wer verheiratet war und wer nicht.

      Als dann ein gewisser Albert Interesse an ihr an den Tag legte, glaubte sie, er sei verheiratet, und gab ihm einen eindeutigen Korb. Immerhin sah sie ihn gelegentlich mit seinen Kindern, wie sie über das Flugfeld liefen, das kleine Mädchen an seiner Hand und ein kleiner Junge auf seinem Arm.

      Er schien seiner Tochter gegenüber besonders aufmerksam zu sein, die er regelmäßig auf Kurzstreckenflüge mitnahm. Charlotte fand dies überaus reizend, unterdrückte jedoch sämtliche Gefühle, die sie für diesen attraktiven Mann empfand.

      Jedes Mal, wenn Albert in Berlin war, sorgte er dafür, dass er besonders viel Zeit für seinen Papierkram aufwendete und dabei regelmäßig um Charlottes Hilfe bat – sie war sich sicher, dass es nur eine Ausrede war, aber sie genoss seine Aufmerksamkeit.

      „Du magst ihn wirklich gern, oder?“, fragte ihre Freundin und Arbeitskollegin Edith. Edith würde bald mit einem wundervollen Mann verheiratet sein, welchen sie kennenlernte, als sie ihm ein Flugticket verkaufte.

      Charlotte freute sich für sie, dachte aber ungern daran sie als ihre Kollegin zu verlieren; sie waren über die Jahre enge Freundinnen geworden, eine Freundschaft die sich über Jahrzehnte streckte. Wie es sich eben schickte und wie es auch die Regierung damals anregte, sollte eine Frau, sobald verheiratet, nicht mehr arbeiten, sondern es wurde von ihr erwartet, ein Heim für ihren Ehemann und die künftigen Kinder zu gründen. Kinderkriegen war die Pflicht einer jeden vollkommenen Ehefrau, wie es von der neuen Regierung unter Hitler gepriesen und belohnt wurde.

      „Ja, Edith, ich mag ihn, aber ich würde niemals auch nur in Betracht ziehen, einen verheirateten Mann zu treffen.“ Sie blieb eisern. „Eigentlich ist er ein ziemlicher Schuft der er mich schon ausführen wollte – aber“, fügte sie hinzu, „ein sehr charmanter und faszinierender Schuft.“

      „Aber er ist nicht verheiratet“, erwiderte Edith, „nicht einmal geschieden wie so viele von ihnen. Er ist Witwer – er hat seine Frau unter tragischen Umständen verloren, der arme Kerl.“

      Charlotte sah sie entgeistert an. Das ließ sie alles in einem völlig neuen Licht sehen und plötzlich war sie von Glückseligkeit erfüllt. Sie umarmte die lächelnde Edith. „Danke, dass du mir das gesagt hast!“

      „Jetzt wirst du also doch mit ihm ausgehen?“, fragte Edith.

      Charlotte nickte. „Wenn er mich noch einmal fragt, ja, oh ja!“

      Und das tat er. Ein paar Tage später lungerte er erneut an ihrem Schreibtisch herum und als ihm die Ausreden ausgingen, mit denen er seine langwierigen Arbeiten an den Dokumenten rechtfertigte, förderte er zwei Kinokarten zutage und fragte sie, ob sie ihn nicht begleiten wolle. Ein Kinobesuch war damals etwas ganz Besonderes. Als die Beliebtheit der „lebenden Bilder“ dramatisch anstieg, wurden sie außerdem zu einem effektiven Propagandamittel für die Nazis.

      Albert und Charlotte wollten sich „Rivalen der Luft“ ansehen, einen Film über das Fliegen und Segelflugzeuge – was ihnen recht passend erschien.

      Albert versprach, sie vor ihrem Wohnhaus abzuholen, was damals nicht üblich war, weil die meisten die S-Bahn oder U-Bahn nahmen, um sich an einem vorher verabredeten Ort zu treffen. Es war daher eine beinahe sensationelle Überraschung für Charlotte als Albert sie in seinem Auto abholte. So gut wie niemand besaß ein eigenes Auto, und absolut niemand, den sie kannte, fuhr ein rotes Mercedes-Roadster-Cabriolet – sie konnte ihren Augen nicht trauen. Fast die gesamte Nachbarschaft hielt Maulaffen feil und beäugte neugierig das exotische Stück glänzender Maschinerie; und dann war es noch ihre kleine Lotti am Arm dieses Piloten, die zum Beifahrersitz geleitet wurde. Was für ein aufregendes Thema für den nächsten Kaffeeklatsch!

      Als sie vom Kino zurückkamen, lud Charlotte Albert ein, ihre Mutter kennenzulernen – ein Treffen, das ihre lebenslange, gute Beziehung begründen sollte – sie mochten sich von der ersten Sekunde an. Mehr als nur einmal behauptete Charlotte unter herzhaftem Lachen, dass er sie nur wegen ihrer Mutter geheiratet hatte.

      Natürlich hatte ihre Mutter auch Sorgen. „Er ist ein gutes Stück älter als du“, hob sie an. „Dann sind da noch die Kinder – hast du darüber nachgedacht, dass du ihre Stiefmutter sein wirst? Du weißt wenig bis gar nichts über das Mutterdasein.“ Und dann ein sehr wichtiger Einwand: „Was, wenn sein Flugzeug abstürzt – was machst du dann mit den Kindern?“

      „Ach Mutti, du machst dir zu viele Sorgen, wir haben noch nicht einmal viel Zeit miteinander verbracht“, antwortete Charlotte. „Wer weiß ob es jemals soweit kommt, aber inzwischen möchte ich diese Zeit meines Lebens genießen.“

      Und sie genossen es: ihr Leben war ein Wirbelwind glücklicher Momente. Berlin war die Hauptstadt der Heiterkeit und spannender Aktivitäten – Kinos, Theater, Oper, Restaurants und die Tänze zu den Klängen verschiedener Orchester. Beide waren leidenschaftliche Tänzer und andere Paare hielten oftmals inne, um diesen wunderbaren Tänzern zu applaudieren.

      Albert brauchte nicht lange, bis er Charlotte einen Antrag machte – sie waren einfach wie füreinander geschaffen. Vor der Verlobung hatte Charlotte beide Kinder kennengelernt, Gisela und Manfred.