Auffällig finde ich, dass viele aus Krisenregionen kommende Afrikaner mit solchen Situationen viel sorgloser umgehen, obwohl sie in ihrer Kindheit und Jugend in der Regel viel weniger behütet und häufiger gequält und mit den Schattenseiten der Welt vertraut gemacht wurden. Dies ist ein Indiz dafür, dass es neben den Erfahrungen, die uns im bewussten Teil unserer Kindheit und Jugend zuteilwerden, noch einen weiteren großen Einflussfaktor auf die Stabilität unserer Selbstempfindung geben muss. Anders ist meiner Ansicht nach die tiefe Selbstsicherheit vieler Afrikaner nicht zu erklären, da unsere Kindheit von weniger Beeinträchtigungen und Brutalität geprägt ist als das Aufwachsen in Hunger- und Krisenregionen. Den oben erwähnten Körperkontakt als Baby dürften die meisten Afrikaner, die in ärmeren Verhältnissen aufwuchsen, eher erhalten haben – meist einfach aus Ermangelung von Kinderwagen und der Möglichkeit, das Baby in ein Bettchen im Nebenzimmer zu legen. Bei uns tragen die wenigsten Mütter ihre Babys den ganzen Tag am Körper, obwohl dies der Urzustand ist, in dem wir aufwachsen sollten. Vor Beginn der Zivilisation war das Getragenwerden für Babys die Regel. Erst unsere Kultur änderte dies.173
In Europa gehen wir aber meist noch weiter. Während in ursprünglichen Regionen Kinder oft sehr lange gestillt werden, müssen europäische Babys häufig schon mit sechs oder zwölf Monaten mit der Flasche auskommen. In industrialisierten Ländern steht künstliche Babynahrung zur Verfügung, und Eltern setzen andere Prioritäten. Mütter haben in größerem Maß als früher das Bedürfnis, wieder ins Berufsleben zurückzukehren, und sind weniger bereit, für ihr Kind Abstriche zu machen. Der brillante Psychoanalytiker Daniel Stern stellt fest: Während der längsten Zeit der Menschheitsgeschichte seien Säuglinge sehr häufig auf das kleinste Signal hin gestillt worden – bis zu zwei Mal pro Stunde. Die Mutter habe den Säugling zumeist am Körper mit sich herumgetragen, weshalb häufiges Stillen möglich war. Heutzutage lassen wir den Hunger der Babys lange anwachsen, was mit hoher Stimulierung verbunden sei, ebenso wie bei der darauffolgenden Sättigung. Stern bezeichnet die heutige Säuglingsernährung als Drama.174
In Deutschland wurden im Jahr 2005 etwa achtzig Prozent aller Babys zumindest zeitweilig über sechs bis acht Monate gestillt, aber nur ein kleiner Teil länger als ein Jahr.175 In vorzivilisatorischer Zeit war es nicht ungewöhnlich, dass Kinder über mehrere Jahre gestillt wurden. Somit erleben auch heute noch viele Babys eine der selbstverständlichsten Erfahrungen von Glück und Geborgenheit nicht oder in unnatürlich geringem Umfang. Auffällig ist, dass unter den Ländern, in denen weniger als neunzig Prozent aller Kinder überhaupt gestillt werden, nur Länder der westlichen Welt sind und keine aus ärmeren, südlichen Regionen.
Fazit: Liebe, Körperkontakt und emotionale Geborgenheit in der frühesten Kindheit sowie Bewahrung der Integrität, Förderung und Angenommen-Sein in der späteren (bewussten) Kindheit und Jugend haben großen Einfluss auf das spätere Selbstbewusstsein eines Menschen.
Manch einer wird dem entgegnen, Getragenwerden sei weniger bedeutend für das optimale Aufwachsen des Kindes als ausreichende Nahrung und Schutz. Doch die Natur tut wenig Unnützes; alle Triebe und Gewohnheiten leisten ihren Beitrag zur Arterhaltung. Getragenwerden gibt dem Baby ein beständiges Gefühl von Sicherheit, das es zu übernehmen und zu verinnerlichen lernt, während das Liegen im Kinderwagen eine beständige Erfahrung von Alleinsein bedeutet. Praktisch ist diese Situation ähnlich der von Gefängnisinsassen: Sie wissen auch die Menschen und die Gesellschaft in ihrer Nähe, können sie aber genauso wenig aus eigener Kraft erreichen wie ein Baby, das im Kinderwagen liegt. Damit lernt das Baby beständig, dass es in seinem Wunsch nach Nähe der Gnade seiner Umwelt ausgeliefert ist und dass es selten genug Liebe erhält und dass das Aushalten und Ertragen von Leid ein wichtiger Anteil des Lebens ist.
Das durch solches Aufwachsen entstandene Lebensgefühl vieler Menschen macht sich unser Wirtschaftssystem zunutze. Viele Menschen nehmen ungünstige Arbeitsbedingungen bereitwillig hin, weil sie sie aus ihrem Lebensgefühl heraus für unabwendbar halten: längere Arbeitszeiten, niedrigere Löhne, mehr Flexibilität der Mitarbeiter und vieles mehr.
Bis wir unsere grausamen Kindheiten in gesellschaftlicher Breite verdaut haben, werden noch Jahrzehnte vergehen. Heutige Kinder wachsen zwar meist mit mehr Geborgenheit, mehr Liebe, weniger Schlägen und weniger Quälerei auf als die Kinder der vorherigen Generationen, aber erstens ist das Ziel noch nicht erreicht und zweitens fand der Übergang lautlos statt. Genauso lautlos wie die Gesetzesänderung, die seit dem Jahr 2000 Eltern das Schlagen ihrer Kinder verbietet. Eine öffentliche Diskussion über die frühere Prügelstrafe und die psychischen Folgen, die sie bei vielen Betroffenen hinterließ, steht noch aus. Da Gewalt in der „Erziehung“ ein sehr verbreiteter Missstand in den Familien war, ist eine öffentliche Diskussion darüber besonders wichtig und eine weitere Verdrängung des Themas hätte schwerwiegende Folgen für die Gesellschaft.
2.5 Aggressivität und Liebesfähigkeit
In seinem Buch Das sogenannte Böse erläutert Konrad Lorenz den Ursprung der Aggressivität aller Lebewesen, wozu sie dient und welche Folgen sie hat – auch in Bezug auf die menschliche Gesellschaft. Er führt aus, dass der Aggressionstrieb nicht pathologisch ist und seine Ursache nicht in einem Kulturverfall zu suchen ist. Die Frage, wieso Aggression bei Tierarten, die eng zusammenleben, nicht einfach abgebaut wurde, beantwortet er damit, dass ihre Funktionen eben nicht entbehrt werden können.176 Dies gilt in Bezug auf den Menschen mindestens für die Zeit vor unserer Selbst-Bewusstwerdung und der neolithischen Revolution. Für mich lautet das Fazit: Das Böse gibt es nicht.
Konrad Lorenz ist für seine Nähe zum Naziregime kritisiert worden. Seine Forschung zur Aggressivität ist über fünfzig Jahre alt. Trotzdem kann ich seine diesbezüglichen Aussagen nachvollziehen und halte seine Thesen für richtig. Im Folgenden werde ich die wichtigsten Gedanken des Buches zusammenfassen, da sie erklären, welche Bedeutung Triebe und Instinkte für unsere Gesellschaft haben und welche Schlüsse man daraus ziehen sollte.
Innerartliche Aggression und Revierverhalten
Aggression ist bei Lorenz der auf den Artgenossen gerichtete Kampftrieb von Mensch und Tier. Bei Beobachtungen an einem Korallenriff in Florida stellte er fest, dass Schwarmfische eher unauffällig aussehen, und im Gegensatz dazu allein oder als Paar lebende Fische, die ortsansässig sind und ein Revier verteidigen, „schreiend bunt“ sind. Letztere seien nur ihresgleichen gegenüber angriffslustig, nicht jedoch Fischen anderer Arten gegenüber.177 Der Überlebenskampf in der Natur ist also keinesfalls ein Kampf aller gegen alle. Die innerartliche Aggression dient vor allem der optimalen Aufteilung des zur Verfügung stehenden Reviers und dazu, dass sich sinnvolle Mutationen innerhalb der Art durchsetzen.178 Es besteht hauptsächlich Konkurrenz zwischen Lebewesen einer Art – sei es beim Revierkampf oder beim Kampf um die Fortpflanzung. Kämpfe zwischen nicht artverwandten Wesen sind selten und fast ausnahmslos nicht-tödlich.179 Aggression dient nicht der Zerstörung, wie man gemeinhin vermutet. Sie hat einen stark arterhaltenden Nutzen.
„Die Gefahr, dass in einem Teil des zur Verfügung stehenden Biotops eine allzu dichte Bevölkerung einer Tierart alle Nahrungsquellen erschöpft und Hunger leidet, während ein anderer Teil ungenutzt bleibt, wird am einfachsten dadurch gebannt, dass die Tiere einer Art sich abstoßen. Dies ist in dürren Worten, die wichtigste arterhaltende Leistung der intraspezifischen Aggression.“180
Darüber hinaus kann die innerartliche Aggression einen weiteren Nutzen haben. Die Anzahl der innerartlichen Kämpfe steigt, wenn die Bevölkerungsdichte so zunimmt, dass die Nahrung knapp wird. Erinnern Sie sich an das Beispiel der Füchse und Hasen auf einer Insel aus Kapitel 2.1? Hintergrund dieser Selbstregulierung könnte sein, dass das abnehmende Nahrungsangebot für die Füchse zu Revierkämpfen und Stress führt und deren Vermehrungsfähigkeit aufgrund des hohen Stresspegels zurückgeht, oder sie verhungern zum Teil, oder hungernde Füchse töten ihre eigenen Jungen häufiger.181 Aggressivität ist lebenserhaltend: Wenn Beutetiere durch Krankheit dezimiert werden, ist es besser, die Jäger töteten sich zum großen Teil gegenseitig, als dass sie alle Beutetiere auffressen und