Die Patientin ist sich ihrer Situation in der Klinik bewusst und wehrt sich nicht mehr gegen den Aufenthalt. Den Tablettenentzug hat sie körperlich gut überstanden, verlangt aber abends nach Schlafmitteln. Sie wird von Albträumen geplagt und hat Angst einzuschlafen. Es stellen sich zwei Trigger heraus, auf die sie mit unterschiedlichen
Abwehrmechanismen reagiert: Sie sieht ihr vergangenes eigenes Ich verletzt und bedroht, wenn im Kontext des Modelns Glück und Selbstbestimmung ihrer Tochter angesprochen werden und reagiert darauf mit Ärger und Wut. Sie macht ihre Tochter dafür verantwortlich, dass ihr das Lebensglück und die Selbstbestimmung genommen wurden. Während sie bei dieser Thematik noch Verbindung zu ihren Gefühlen hat (Wut und Ärger), bewirkt der Trigger Vater der Tochter eine Ich-Dissoziierung und Erstarrung, sodass davon auszugehen ist, dass das schwerwiegendere Trauma im Zusammenhang mit der Zeugung der Tochter steht. Nach wie vor ist eine Vergewaltigung nicht auszuschließen. Alles deutet auf eine traumatisierte Übertragung hin: Die Patientin inszeniert unbewusst immer wieder den Beginn ihrer eigenen Modelkarriere und hält diesen Wunsch lebendig, indem sie aus ihrer Tochter ein
Model machen möchte. Andererseits überträgt sie ihre negativen Erfahrungen im Kontext der Zeugung und Geburt auf ihre Tochter und kehrt damit die Rollen um: Die Patientin, damals das Opfer, dem seine Selbstbestimmung genommen worden ist, wird jetzt zur Täterin und macht ihre Tochter zum fremdbestimmten Opfer. Somit fungiert ihre Tochter einerseits als Stellvertreterin für die nicht erfüllten Wünsche der Patientin, andererseits als Sündenbock für das ihr zugefügte Leid.
Weiterführende Maßnahmen/nächste Therapieschritte
- Gespräch über die Alb-/Träume der Patientin
- Verhältnis zum Vater thematisieren
- Was wissen Tochter und Mutter über die Vaterschaft?
- Aufbau einer wertschätzenden Beziehung zu sich selbst, um über das Ereignis der Entwürdigung sprechen zu können.
Julia
Vier Wochen nach Mutters Einlieferung wollte ich sie das erste Mal in der Psychiatrie besuchen. Meine Großmutter begleitete mich und bereitete mich während der Busfahrt darauf vor, dass Mutter im Moment einen ungewohnt lethargischen Anblick biete und sich anders verhalte als ich sie kenne. Ich solle mir das nicht zu sehr zu Herzen nehmen, das habe nichts mit mir zu tun. Bis zu Großmutters Vorwarnung habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, dass Mutter anders aussehen könnte als eine Figur aus ihren Modemagazinen, die sie täglich las, und mich anders behandeln könnte als ihre willenlose Leibeigene; vor allem der Begriff »lethargisch« war im Zusammenhang mit Mutter fehl am Platze, ich habe sie nie anders als nervös, gestresst und herrisch erlebt. Deshalb fragte ich Großmutter: »Wie ist sie denn?« »Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, sie sagt nicht viel und wirkt, als sei sie mit den Gedanken woanders. Als ich ihr letzte Woche eine Tasche mit Kleidung brachte, bat sie mich, ihr eine kleine Schatulle mit sehr persönlichen Sachen aus ihrem Nachttisch mitzubringen, die sie vor über fünfzehn Jahren aus England mitgebracht haben muss.«
Ich wurde neugierig, eine solche Geheimnistuerei passte nicht zu Mutter, sie war freizügig, vulgär und trug ihre Gedanken auf der Zunge, weshalb ich nachhakte: »Hast du nachgesehen, was sich in der Schatulle befindet?«
»Ich habe zwar einen Blick hineingeworfen, aber nicht darin herumgewühlt oder mir die Dinge genauer angesehen. Das gehört sich nicht. Es waren Fotos, ein Buch, mehrere Schriftstücke und eine Kette mit einem Ring darin.«
Wir erreichten die Klinik, die einen überraschend friedlichen Eindruck machte. Umgeben von Wald und mit Blick auf einen See wirkte sie wie ein Ort, an den man sich eher freiwillig zur Erholung einquartiert als unfreiwillig eingewiesen wird. Großmutter brachte mich bis zu Mutters Zimmer, wollte mich aber zunächst mit ihr alleine sprechen lassen. Falls ich sie brauche oder ich mit Mutter herunterkommen wolle, fände ich sie draußen auf der Caféterrasse. Ich klopfte an, aber es kam keine Antwort. Ich horchte an der Tür, rief zaghaft ihren Namen, klopfte erneut, aber es regte sich nichts. Vielleicht schlief sie. Vorsichtig drückte ich die Türklinke herunter, die Tür ließ sich öffnen, ich machte einen unsicheren Schritt in das Zimmer, rief Mutters Namen, aber erhielt wieder keine Antwort. Ich schlich ins Zimmer und schloss so leise wie möglich die Tür. Nichts erinnerte hier an Mutter. War ich im richtigen Zimmer?
Das musste es sein, denn an dem Bettgestell klemmte ein Schild mit ihrem Namen. Warum standen hier so viele Blumen, zu Hause wollte sie nie welche haben? Oder gehörten die zur Klinikausstattung? Es roch angenehm frisch, nicht nach ihrem süßen aufdringlichen Parfüm und es lagen keine Zeitschriften herum. Mein Blick fiel auf ein Bild, das auf ihrem Nachttisch stand. Es war eine Schwarzweißaufnahme zweier Mädchen, die sich umarmten und sehr glücklich wirkten; die Köpfe aneinandergelehnt lachten sie in die Kamera. Wer waren die beiden? Ich nahm das Foto aus dem Rahmen, um nachzusehen, ob sich auf der Rückseite ein Hinweis befand. Ich las: »Lissy und Birdy. Neasden 1958.« Verwirrt setzte ich mich auf das Bett und versuchte irgendeinen logischen Zusammenhang zwischen dem Bild und Mutter herzustellen. Ich hatte die Namen noch nie gehört, aber je länger ich die Gesichter dieser beiden Mädchen betrachtete, desto mehr erkannte ich bei dem einen die kindlichen, unverfälschten Züge der heute von einer kosmetischen Maskerade verstellten Mutter. Das Mädchen neben Mutter schien eine enge Freundin von ihr zu sein.
Ich hatte Mutter früher einige Male nach ihrer Kindheit und Jugend in England gefragt, aber sie blockte immer ab, sagte bloß, da gebe es nicht viel zu erzählen, es sei eine gewöhnliche Kindheit und trostlose, von dem Tod ihres Vaters überschattete Jugend gewesen, die ihren negativen Höhepunkt in der ungewollten Schwangerschaft erreicht hätte. Als ich sie das zweite Mal im Alter von acht Jahren nach meinem Vater fragte, bekam sie einen hysterischen Anfall, schlug um sich, warf mit allem, was sie in die Finger bekam, nach mir und schrie: »Ich habe dir gesagt, dass ich die Frage nie mehr hören will, ich weiß nicht, wer dein Vater ist, ich war sturzbetrunken und es ist auf einer Party in einer Toilettenkabine passiert. So, jetzt weißt du es. Und ich warne dich, sprich mich nicht noch einmal darauf an, wenn dir dein Leben lieb ist!«
Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meiner Konfusion, hastig versuchte ich das Foto wieder in den Bilderrahmen zu bekommen, als jemand die Tür aufmachte und mit den Worten »Frau Schröder?« ins Zimmer trat. Ich versteckte Bild und Rahmen schnell unter der Bettdecke, schaute die Ärztin unschuldig an und antwortete: »Ja.« Sie lächelte mich an und hielt meine Antwort für einen Scherz, auf den sie mit gespielter Verwunderung einging: »Aber Frau Schröder, bei Ihnen hat die Verjüngungskur ja schneller angeschlagen als erwartet, na dann können wir Sie ja schon bald entlassen.«
»Sie liegen gar nicht so falsch«, sagte ich, »ich bin Lotte, die Tochter von Frau Schröder und wollte Mutter besuchen. Wissen sie, wo sie ist?« Sie ging mit mir auf den Balkon und zeigte in Richtung See: »Wenn sie nicht in ihrem Zimmer ist, sitzt sie meistens dort drüben auf der anderen Seite des Sees auf der Bank unter der großen Kastanie und liest ein Buch.« Ungläubig entgegnete ich: »Sind Sie sicher, dass Sie meine Mutter nicht mit jemand anderem verwechseln? Ich habe sie nämlich noch nie länger als zwei Minuten freiwillig ruhig irgendwo sitzen sehen, einem Aufenthalt in der Natur konnte sie nie etwas abgewinnen und niemals brächte sie die Geduld auf, ein Buch zu lesen.«
Frau Dr. Rosenowsky wurde ernst: »Lotte, ich weiß nicht, was deine Mutter dir über ihre Vergangenheit erzählt hat, aber du solltest wissen, dass in ihrer Jugend wahrscheinlich Dinge passiert sind, die sie verdrängt hat, weil sie sie sehr verletzt haben. Und ich als ihre Psychotherapeutin werde versuchen, diese Ereignisse wieder in ihr Bewusstsein zurückzuholen, damit sie in Zukunft besser damit leben kann. Aber das kann ein langwieriger und schmerzhafter Prozess sein. Um die erste Therapiephase zu überstehen, nimmt sie Medikamente, die sie zur Ruhe und zu sich selbst kommen lassen. Vielleicht erkennst du sie daher kaum wieder. Es wäre eventuell leichter für dich, wenn du bei dem ersten Besuch nicht alleine zu deiner Mutter gehst. Wenn du möchtest, kann ich mitkommen.« »Vielen Dank, aber meine Großmutter wartet unten in der Caféteria, sie kann mich begleiten.«
Auf dem Weg zum See erzählte ich meiner Großmutter, was Frau Dr. Rosenowsky über Mutter gesagt hatte