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Bis zu dem Tag, als ich Gabi gegenüber in Erklärungsnöte gekommen war, hatte ich mir über die Paste keine Gedanken gemacht, da Mutter neben ihrer Arbeit als Schneiderin als Vertreterin für Beate Uhse-Artikel unterwegs war und ich daher von klein auf Gummiringe auf Dildos schob statt Legosteine zusammenzustecken und nicht auf einem imaginären Einhorn ritt, sondern mit Latexmaske und Silikonpeitsche durch die Wohnung jagte. Der Koffer mit Sexspielzeug war für mich eine Schatztruhe absonderlicher Entdeckungen, die ich leider geheim halten und nicht mit meinen Freunden teilen konnte, was mir Mutter unmissverständlich mit drohendem Zeigefinger zu verstehen gab. Nach der ersten Stunde Sexualkundeunterricht in Biologie in der fünften Klasse bekam ich eine Ahnung davon, warum mein Spielzeug der Geheimhaltung unterlag, da ich vage Verbindungen ziehen konnte zwischen den Bildern in unserem Schulbuch und den Erklärungen unserer Lehrerin und dem Inhalt des Koffers. Als in der zweiten Stunde das Kinderkriegen thematisiert wurde, bekam ich einen innerlichen Panikanfall, da ich in den Abbildungen des männlichen Geschlechtsteils die Dildos wiedererkannte, mit denen ich beinahe täglich in Berührung kam. Wofür sollten die sonst gut sein, als diese kleinen Kaulquappen abzusondern, damit sie sich in der Spielgefährtin einnisten konnten, so wie es auf den Arbeitsblättern zu sehen war. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, tastete immer wieder meinen Bauch ab, ob der sich nicht bereits verdächtig wölbte und wollte Mutter am nächsten Tag zur Rede stellen. Würde sie mich damit spielen lassen, wenn es so gefährlich wäre? Glücklicherweise lösten sich meine Sorgen in der nächsten Biologiestunde in peinlichem Stolz auf, als Frau Stövken Penismodelle und Kondome verteilte, um uns schon einmal mit einer möglichen Verhütungsmethode vertraut zu machen, denn in den nächsten Jahren sei es für uns wichtiger zu wissen, wie man eine Schwangerschaft verhindere als wie man sie herbeiführe. Während Frau Stövken wie eine Stewardess den Plastikpenis vor sich hielt und demonstrierte, wie man das Kondom darüberzustreifen habe, war ich in meinem Element, hatte bereits zwei Kondome über ein Exemplar gezogen und suchte vergeblich nach dem Schalter, mit dem unsere Dildos zu Hause ausgestattet waren. Denn ohne die lustigen Kreisbewegungen oder das Vibrieren waren die Dinger furchtbar langweilig. Als ich aufzeigte, um nach dem An-Aus-Knopf zu fragen, bemerkte ich erst, dass die anderen mit hochrotem Kopf das Plastikglied vor sich auf dem Tisch unangetastet anstarrten, vor Scham kicherten und wie gelähmt davor saßen.
Sie waren so befangen, dass sie mein fingerfertiges Vorpreschen nicht bemerkt hatten, sodass ich meine Meldung schnell zurückzog, unter der Bank unauffällig den Phallus wieder von den Kondomen befreite, diese wieder in die Verpackung steckte, beides vor mich auf den Tisch legte und versuchte, ebenso überfordert vor mich hinzustarren wie meine Mitschüler. Frau Stövken hatte meine Expertise aber mitbekommen und meine Meldung registriert: »Lotte, du hast eine Frage?«
»Ich wollte fragen, wo der An-Aus-Schalter an diesen Dildos ist.«
Frau Stövken brauchte einige Sekunden, bis ihr die Brisanz dieser Frage bewusst wurde, errötete dann schlagartig, dachte womöglich an ihr eigenes Gerät zu Hause, hoffte, dass die anderen Schüler die Frage nicht gehört oder begriffen hatten und antwortete herunterspielend und möglichst leise nur an mich gerichtet: »Diese Modelle haben keine Schalter« und schob hektisch und mit lauterer Stimme hinterher: »Und jetzt sei so lieb und schau dich an den Tischen um, wer Hilfe gebrauchen könnte.«
Ich war mit der Antwort nicht zufrieden, aber bevor ich nachhaken konnte, guckte Frau Stövken mich durchdringend an und forderte mich mit einer zur Eile gemahnenden Handbewegung auf, durch die Klasse zu gehen und den Befangenen bei der Verhütung zu helfen.
Während sich die Stimmung unter den Schülern lockerte, zuckte Frau Stövken alle paar Minuten zusammen, wenn sie das Wort »Dildo« an den Tischen vernahm, das die Schüler wie selbstverständlich in ihren Wortschatz aufgenommen hatten. Sie sah vor ihrem inneren Auge, wie die Kinder ihren Eltern beim Abendessen begeistert von den Dildos in ihrem Unterricht erzählen würden und legte sich schon einmal Erklärungen zurecht, mit denen sie die Empörten bei den auf sie einstürzenden Elterngesprächen beruhigen konnte. Am Ende der Stunde bat mich Frau Stövken zu sich und wollte wissen, woher ich den Ausdruck habe und warum ich mich mit dem so Bezeichneten so gut auskenne.
Ich erzählte ihr ungeniert, dass Mutter beruflich damit zu tun habe und ich mit den Dingen in ihrem Arbeitskoffer spielen dürfe, unter denen sich eben auch solche aus dem heutigen Unterricht befänden und auf deren Verpackung »Dildo« stehe.
Frau Stövken witterte Kindesmisshandlung und versuchte sich an den Ablaufplan bei einem solchen Verdacht zu erinnern, welchen die Kollegen des sozialpsychologischen Dienstes auf der letzten Lehrerkonferenz anschaulich per PowerPoint-Präsentation vorgestellt hatten, um sich über den nächsten Schritt klarzuwerden, den sie zweifellos unverzüglich einleiten musste. Dabei kam ihr eine der fünf wichtigsten Regeln in den Sinn, die laut Beratungsteam unbedingt eingehalten werden sollte: »Sprechen Sie mit den Schülerinnen und Schülern nicht über Details des Hergangs!« Deshalb blieb sie möglichst sachlich und sagte beschwichtigend: »Also gut, aber ich bitte dich diesen Namen für unsere im Unterricht verwendeten Modelle des männlichen Geschlechtsteiles nicht zu verwenden, da er unangemessen und nicht richtig ist! Verstanden?«
Ich fühlte mich zu Unrecht abgekanzelt, da ich mir keiner Schuld bewusst war und erwiderte gekränkt mit den Worten: »In Ordnung! Aber was ist so schlimm an dem Wort?« »Lotte, am besten, du vergisst ihn einfach. Geh jetzt in die Pause.«
Eine Woche später hatte ich einen Termin bei Frau Recki, unserer Sozialpädagogin, während die anderen Sportunterricht hatten, was mich wütend machte, denn Sport war mein Lieblingsfach und der Höhepunkt der Woche. Meine schlechte Laune verflog aber sofort, als Frau Recki auf mein Klopfen hin die Tür öffnete, herzlich ihren Arm um mich legte und mich in ihr Sprechzimmer führte. Ich tauchte ein in eine wohltuende Welt mit lustigen Tierbildern an den Wänden, einem bunten, flauschigen Teppich und einem weichen, blauen Ledersofa. Ich zog meine Schuhe aus und ein Paar der dicken, selbst gestrickten Wollsocken, die in einem Korb neben der Tür lagen, an und machte es mir auf dem Sofa bequem. Vor dem Fenster stand ein uralter Schreibtisch aus edlem Holz mit blumigen Verzierungen, in der Ecke neben dem Schreibtisch schlängelte sich eine Philodendron bis zur Decke hoch und auf der Fensterbank und dem kleinen Tisch vor dem Sofa verbreiteten bunte, duftende Blumensträuße eine freundliche Atmosphäre. Endgültig entschädigten mich aber die kleinen Naschereien, die mir Frau Recki anbot, bei denen ich im Laufe unseres Gespräches immer beherzter zugriff; nicht nur wegen meines ständigen Appetits auf Süßes, sondern auch, weil sie meine Nerven, die Frau Recki ziemlich strapazierte, beruhigten.
Ich verlor zunehmend meine Scheu und vertraute mich ihr mehr und mehr an, was sie sehr mitzunehmen schien, denn zuweilen bekam sie rote Flecken am Hals und Schweißperlen bedeckten ihre Stirn. Ich erzählte ihr vom Fußball-, Hamburger-, Pommes- und Süßigkeitenverbot, von Knäckebrot, Salat, Basentee, den Beckenbodenübungen am Morgen und der Knetbehandlung mit der Penis-Steifungscreme am Abend. Als ich ihr schilderte, dass Mutter mir die Schuld an der Zerstörungen ihres Traumes einer Modelkarriere gebe, da ihr Körper während der Schwangerschaft durch Wasserablagerungen, Dehnungsstreifen in der Haut und einen Hängebusen verunstaltet worden sei, was sie mir regelmäßig vorwurfsvoll präsentiere und ich deshalb als Schadenersatz an ihrer Stelle Modell werden müsse, zog Frau Recki ein Taschentuch aus dem Spender und schnäuzte sich. Ihre Tränen verunsicherten mich und mir kamen Bedenken, ob mit mir etwas nicht in Ordnung sei, weil meine Augen trocken blieben und ich keinen Drang verspürte, mich schluchzend an Frau Reckis Brust zu werfen. Ich versuchte vergeblich, meine Tränendrüsen zu aktivieren und dabei fiel mir ein, dass ich Mutter noch nie habe richtig weinen sehen, außer ein paar Glückstränen vor Stolz. Sie liefen ihr über die Wangen, als ich letztes Jahr für eine chinesische Designerin auf der New Yorker Fashionweek deren Partnerlook-Kreationen, gleiche Outfits für Eltern und Kind, zur Schau stellen musste. Statt eines in die Rolle der Mutter schlüpfendes Model durfte sie sich auf den Pressefotos in einem hautengen Kostüm neben mir ablichten lassen, das den verlorenen Kampf gegen ihre Schwachstellen enthüllte. Mir wurde übel bei dem Gedanken, dass Gefühlskälte vererbbar ist, denn ich wollte auf keinen Fall so werden wie Mutter. Mein Unwohlsein schien sich in meinem Gesicht widerzuspiegeln,