Am Trainingsplatz angekommen sah ich jemanden verschiedene Übungsstationen auf dem Rasenplatz aufbauen, weshalb ich annahm, dass dies der Trainer sein müsste, aber nach der Begegnung mit Wolle war ich etwas verunsichert. Vielleicht hatte der KBC ja auch einen extra Trainingsgeräteaufsteller. Zögerlich näherte ich mich dem Platz und stand eine Weile am Spielfeldrand, bis der Mann mich bemerkte und lächelnd auf mich zukam: »Lotte? Schön, dass du da bist. Die Mädels findest du da drüben in der Umkleide.« Ich war nervös und atmete tief durch, bevor ich die Umkleideräume betrat. Meine zukünftigen Mannschaftskolleginnen redeten alle gut gelaunt durcheinander. Die meisten waren deutlich älter als ich, auf einigen prangten Tattoos und sie gingen ziemlich vulgär miteinander um, so wie ich es eher vom Männertyp zwei und drei aus meiner alten Jungenmannschaft kannte. Als eine ihre Hüllen fallen ließ und ein Leopardentanga zum Vorschein kam, gab es obszöne Pfiffe, schlüpfrige Bemerkungen und anzügliche Klapse auf den Allerwertesten. Ich blieb eingeschüchtert an der Tür stehen und sie bemerkten mich zunächst nicht. Mit einem zaghaften »Hallo!« machte ich auf mich aufmerksam, woraufhin die Leopardin mir entgegensprang, mir ihren muskulösen Arm um die Schultern legte und mich den anderen vorstellte: »Hi, du bist wahrscheinlich das angekündigte Sturmwunder auf zwei Stelzen?«
»Lotte wäre mir lieber!«, konterte ich.
Ich fühlte mich fehl am Platze, denn dem Sprücheklopfen konnte ich nichts abgewinnen und stieg in dieses Gebaren nicht mit ein, sondern blieb mit meiner Tasche um die Schulter am Eingang stehen.
Die Leopardin zog sich ihr Trikot und eine Armbinde an, die sie als Spielführerin auswies, und übernahm auch in der Kabine die Initiative: »So, Mädels, jetzt zeigen wir uns mal von unserer guten Seite und nehmen Lotte in unser Team auf.« Was dann geschah, verkehrte mein anfängliches Gefühl der Deplatziertheit in eines der Zugehörigkeit. Alle Spielerinnen bildeten mit mir zusammen einen Kreis, indem wir unsere Arme gegenseitig auf den Schultern verschränkten und unsere Oberkörper nach vorne beugten, sodass sich die Köpfe in der Mitte trafen. Die Spielführerin begann leise mit der Silbe »ho«, die Nachbarin stieß ein etwas lauteres »ha« aus und so ging es immer lauter werdend im Wechsel reihum weiter: »Ho, ha, ho, ha, ho, ha!« Nach zwei Runden waren wir eine eingeschworene Einheit und begannen uns wie bei einem indigenen Ritual im Kreis zu drehen und Gesänge anzustimmen. Ich war wie weggetreten und mit den anderen zusammengeschmolzen. Die Spielführerin trat in die Mitte des Kreises, zog mich zu sich, während die anderen weitersangen, wir sahen uns tief in die Augen, lachten uns an, stecken die Köpfe zusammen, klopften uns gegenseitig auf die Schultern, reihten uns wieder in den Kreis ein und ein anderes Pärchen trat in die Mitte und vollzog das gleiche Ritual. Am Ende bildeten wir die Anfangsformation und reduzierten die Gesänge wieder auf das reihum laufende »ho, ha«, bis das Ritual in einem letzten leisen »ho« versiegte. Mir kam es so vor, als hätte ich eine ganze Trainingseinheit hinter mir, aber de facto waren nur fünf Minuten vergangen. Die Atmosphäre war wie ausgewechselt, der Zusammenhalt fühlbar. Meine Mannschaftskolleginnen stellten sich in einer Reihe auf, ich ging an ihnen vorbei, tauschte mit jeder einen Handschlag und sie nannten mir ihre Namen.
Ich zog noch schnell mein Geburtstagstrikot über, wofür ich mich trotz der Gefahr, dass es etwas kindisch wirken könnte, entschieden hatte, da es mir das Gefühl gab, meine alte Mannschaft um mich zu haben, die mich zur Not beschützen würde.
Der Notfall trat nicht ein, denn bereits beim ersten Trainingsspiel erwies sich die Zeit in der Jungenmannschaft des FC Millingen als gute Schule. Obwohl ich die Jüngste im Team war, hatte ich eine gute Spielübersicht, lief mich blitzschnell frei und stand häufig vor dem Tor und musste auf den Pass warten. Anfänglich schienen die anderen im Zweikampf noch etwas zögerlich, als hätten sie Angst, mich zu zerbrechen, aber als sie merkten, dass ich alles andere als zimperlich zur Sache ging - gegen Walze und die Männergrätschen, die ich gewohnt war, wirkten ihre Körperkontakte wie Streicheleinheiten -, versuchten sie mich zunehmend rabiater auszubremsen, was ihnen aber selten gelang, da ich ihre Attacken meist voraussah und über sie hinwegsprang, weshalb sie mir den Namen Grashüpfer verpassten.
Parkklinik Hochfeld Duisburg
Prof. Dr. Mechthild Rosenowsky
Therapieprotokoll
Name der Patientin: Schröder, Julia
eingewiesen am: 10.08.1982
geboren am 15.01.1949 in Neasden (GB)
Familienstand: ledig
Kinder: eine Tochter, geb. am 15.04.1967 in Duisburg
Sitzung: 3. Datum: 27.08.1982
Äußeres Erscheinungsbild
Nach wie vor sehr gepflegter Eindruck, geschminkt, schweres Parfüm, Haare zu einem Dutt gebunden, lackierte Fingernägel, Lippenstift. Streng und auffällig gekleidet: Kostüme, Röcke, Stoffhosen, Blusen, meist hochhackige Schuhe, trägt Schmuck, außer Ringe.
Äußeres Verhalten
Die Patientin grüßt verhalten beim Eintritt in das Behandlungszimmer und setzt sich ohne Aufforderung hin. Sie weicht meinem Blick aus, aber in einer mehr unsicheren als feindseligen Art. Ihr Blick geht weniger starr geradeaus als mehr nach unten. Sie sitzt weniger steif und angespannt auf dem Sessel, lehnt sich zeitweise an, wechselt häufig Arm- und Beinstellung.
Denkweisen/Gefühlslage/soziale Interaktion
Auf die Fragen nach ihrem Befinden und ob sie das Gefühl habe, dass ihr hier geholfen werde, räumt sie ein, dass sie sehr erschöpft sei, aber beharrt nach wie vor darauf, keine psychotherapeutische Hilfe, sondern nur etwas Ruhe zu benötigen. Auf Fragen zu einem Lebenspartner reagiert sie abweisend und verärgert: Sie brauche keinen Mann, stehe lieber auf eigenen Füßen. Sie scheint ein sehr schlechtes Männerbild zu haben. Auf die Nachfrage, ob sie sich vorstellen könne, dass ihre Tochter Lotte sich nach einem Vater sehne, fällt sie sofort in eine Verweigerungshaltung, ihr Blick zeigt Dissoziierungstendenzen, sie scheint von sich selbst fort zu sein und ist nicht mehr ansprechbar. Der einzige Zugang zu ihrer Vergangenheit ist das Thema Modeln, ihre Stimmung hellt sich auf, sie nimmt sogar kurz Blickkontakt auf und sagt, dass sie damals als eines der jüngsten Models kurz vor dem Durchbruch gestanden habe. Die Erinnerungen an die Gründe des Scheiterns dieser Karriere sind ihr nicht zugänglich beziehungsweise blockt sie die Frage danach ab, erstarrt und wird sichtlich nervös, bevor sie ungewöhnlich lebhaft von den Erfolgen ihrer Tochter und deren bevorstehenden Karriere prahlt. Sie ist allerdings nicht in der Lage, sich in ihre Tochter hineinzuversetzen, deren Wünsche und Befinden blendet sie vollkommen aus beziehungsweise spricht davon in einer sachlichen und distanzierten Art, als rede sie über einen Gegenstand, den sie formen müsse. Als ich sie mit den durch Mangelernährung und Stress verursachten gesundheitlichen Beschwerden ihrer Tochter konfrontiere, gerät sie außer sich vor Wut und Ärger:
Um als Model etwas zu erreichen, müsse man hart zu sich selbst sein und die Grenzen des Körpers überschreiten. Das müsse sie ihrer Tochter beibringen.
Die Frage, ob sie nicht wolle, dass ihre Tochter selbst hinter dem Modeln stehe und glücklich damit werde, löst eine traumatische Reaktion bei ihr aus. Sie schlägt