4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018. Christoph-Maria Liegener. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph-Maria Liegener
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Зарубежные стихи
Год издания: 0
isbn: 9783746992471
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heftig den Kopf, heftig und jungenhaft, aber doch mit einem Anflug jener milden Nachsicht, die mir an Männern seines Alters nie gefallen hat, und meinte - dabei ständig den Kopf hin- und herwiegend -, nein, was mit diesem Tomaczek geschehen sei, habe mir bestimmt keiner vor ihm erzählt, denn die Augenzeugen des Schauspiels, das sich an einem Nachmittag im Frühsommer 1941 auf dem Marktplatz in Brassert zugetragen habe, schwiegen sicher allesamt aus Furcht, man werde sie womöglich für Mitschuldige halten, was sie eigentlich auch gewesen seien, aber er werde mich nun nicht länger auf die Folter spannen, sondern mir gleich von den Vorgängen dieses Tages berichten, sobald er sich die Pfeife gestopft habe, und dabei öffnete er die Blechdose, die er bisher zwischen den Fingern gedreht hatte, stopfte etwas Tabak in die Pfeife, drückte ihn mit dem Daumen an, ruhig und konzentriert, ohne sich von meinem fordernden Blick auch nur im geringsten irritieren zu lassen, überprüfte noch einmal die Festigkeit, bevor er endlich das zerbissene Mundstück, grün und ausgelaugt vom häufigen Gebrauch, zwischen die braunen Zähne nahm und die ersten Züge tat und kalt weiterrauchte, bis ich für ihn ein Streichholz anriss und ihm Feuer gab, worauf er fester und fester zog, dann die ersten Wolken aus dem Mund steigen ließ, was ihm offensichtlich einiges Vergnügen bereitete und ihn dazu veranlasste, immer heftiger zu paffen, bis der Raum ganz von den süßlichen Nebelschwaden erfüllt war und ich schon zu fürchten begann, er lasse seine Gedanken zu weit abtreiben, als dass er sich noch der Geschichte erinnern werde, die er mir zu erzählen versprochen hatte, aber während ich nach einem Mittel suchte, um ihm meine Gegenwart ins Gedächtnis zu rufen, teilte seine Stimme schon die Stille, und ich hörte ihn von diesem Tomaczek berichten, von jenem Mann, den ich nicht kannte, der mich nun aber - wohl wegen der geheimnisvollen Ankündigung des Alten - zu interessieren begann, ein Mann von damals etwa vierzig Jahren, Bergmann von Beruf, Vater dreier Kinder und der beste Ankerwickler, über den die Zeche verfügte, ein stiller Mensch, der sich politisch niemals hervorgetan hatte, obwohl er das braune Gesocks eher heute als morgen zum Teufel wünschte, wie er seinem Bruder einmal anvertraut haben soll, ein Mann, der nie mit den Mächtigen in Konflikt geraten war, nicht bis zu jenem Tag im Frühsommer *41, an dessen Vorabend er in seiner Stammkneipe wohl etwas über den Durst getrunken hatte, was ihn nicht nur dazu veranlasste, heimlich eine Flasche Branntwein aus dem Regal zu nehmen, sondern auch dazu, sich wenig später auf ein Gespräch mit jungen polnischen Fremdarbeitern einzulassen, denen er bei seinem Heimweg begegnete, Dienstverpflichteten also, die sich - anders als bald darauf die Verschleppten aus der Sowjetunion - weitgehend frei in der Stadt bewegen durften, obwohl auch sie von den braunen Herrenmenschen als lästiges Ungeziefer angesehen wurden, und Tomaczek habe mit den Polenburschen nicht nur ein lockeres Gespräch am Straßenrand begonnen, sondern er habe sich auch dazu hinreißen lassen, die Flasche im Verlauf der Unterhaltung aus der Tasche zu ziehen und weiterzureichen, nachdem er selbst davon getrunken hatte, und jeder der Polenburschen habe einen Schluck genommen, einen Schluck nur, höchstens zwei, und Tomaczek habe sich dabei bestimmt nichts weiter gedacht, und er habe auch nicht gemerkt, dass der Ortsgruppenleiter ihn durch das Fenster des benachbarten Hauses beobachtete, so dass noch in der gleichen Nacht, als Tomaczek schon zu Hause bei seiner Frau im Bett lag, eine Sitzung der örtlichen Parteileitung einberufen wurde, auf der man beschloß, an dem Saukerl Tomaczek ein Exempel zu statuieren, woraufhin wenig später einige Nazis unter Führung des Ortsgruppenleiters grölend vor dem Haus des friedlich Schlummernden aufgetaucht seien und den verstörten Bergmann aus dem Bett gezerrt hätten, und während der Alte mir das alles erzählte, dabei wieder und wieder Pausen einlegend und versonnen dem Rauch nachblickend, sah ich den Marktplatz vor mir, wie ich ihn hundertmal zuvor gesehen habe, links den Bunker mit seinen armdicken Mauern wie eine widersinnige Trutzburg, vor mir den gepflasterten Platz, weit hinten, mittwochs und samstags von den Ständen der Obst-, Gemüse- und Blumenhändler verdeckt, die halbhohe Steinwand, rechts die Geschäfte im Parterre des neuerbauten Wohnhauses, in meinem Rücken die lebhafte Brassertstraße und vor mir eine Menge stummer Bürger, Geschäftsleute und kleine Angestellte, deren Gesichter ich mir nie habe merken können, dazwischen die Bergmänner aus der alten Kolonie mit Frauen und Kindern, aber allesamt nicht so herausgeputzt, wie sie mir heute oft vorkommen, eine schweigende, ängstliche und neugierige, fast lauernde Menschenmenge, die die Hälse reckt und regungslos dem Treiben folgt, das sich vor ihren Augen abspielt, in Szene gesetzt von den örtlichen Parteibonzen, die seit Jahren auf diese Stunde gewartet haben, und ich dazwischen und lauernd und ängstlich und stumm, den Spalt zwischen den Schultern meiner Vorderleute verbissen gegen das Drücken und Drängen der Nachfolgenden verteidigend, während der Mann vorn auf die bereitgestellten Kisten gehievt wird, von festen Männerhänden geschoben, gezogen, gedrückt, von den Fäusten eines dicken Mannes in Uniform am Kragen gepackt, und während ein Raunen durch die wie erstarrt Stehenden geht, während sie den Mann, von dem ich nur weiß, dass er Tomaczek heißt, hin- und herzerren, bis er die Position einnimmt, die sie ihm zugedacht haben, während hinter mir das Geschiebe und Gepuffe von neuem beginnt, sehe ich zum ersten Mal sein Gesicht, sehe die Angst dort, die dunkle Kruste aus getrocknetem Blut und Dreck im Mundwinkel, die hilflos rudernden Arme und das Schild vor seiner Brust, diesen hämmernden, pochenden, nicht mehr auszulöschenden Schriftzug auf Pappdeckel, dieses „Ich bin ein Polackenfreund“, und dazwischen und darüber und darunter und immer wieder Arme unter Uniformtuch, die ihn vor und zurück und zur Seite zerren, als genüge dieser Augenblick der Erniedrigung ihnen nicht, als müsse die Inszenierung weiter vervollkommnet werden, Hände und Hände, nun auch neben mir, vor mir, hinter mir, Hände, die sich mit Pferdedung beladen, sich zu Fäusten ballen, während meine Hände sich tiefer und tiefer in die Hosentaschen graben, während ich mit aufgerissenen Augen starre, angewidert und gelähmt, die Hände noch tiefer in die Taschen bohre, damit ich sie nicht auch in den Pferdekot greifen sehe, während die Fäuste sich recken, während der Kot auf seinen Körper prasselt, während die neben mir nun die ersten Steine werfen, während ihn eins der Geschosse am Kinn trifft und das Blut auf seine Jacke spritzt, auf die Schrift vor seiner Brust und auf die Hände, die ihn noch immer halten, während er zu wanken beginnt, sich kaum mehr auf den Beinen zu halten vermag, aber trotzdem nicht zu Boden geht, während ich dieses Pochen in mir höre, das Blut in den Schläfen, die Frage, warum ich nicht aufschreie, warum ich nicht vor ihn trete, um ihn mit meinem Körper zu schützen, warum ich ihnen nicht in die Fressen schlage, warum ich nicht, wenn ich schon alles dies nicht tun kann, warum ich dann nicht wenigstens fortgehe, während ich noch immer hier stehe, die Hände in den Hosentaschen vergraben, starrstumm, fragte mich der Alte, der mir diese Geschichte erzählte, noch einmal, ob man sie mir jemals erzählt habe, und ich - noch immer zwischen den Männern, Frauen und Kindern auf dem Marktplatz meiner Stadt - schrie ihm mein Nein ins Gesicht, dass er erschreckt verstummte und mich musterte, als wäre ich ihm fremd.

      Kommentar: Eine Geschichte wie ein Tsunami. Man wird mitgerissen – ohne eine Gelegenheit innezuhalten und ähnlich hilflos, wie sich der Erzähler damals auch gefühlt haben muss.

       Samira Schogofa

       Diffuser Blick

      Schlampig übers Gerippe gezogen

      faserig an den Ellenbogen

      blättert die Haut allmählich ab,

      fällt in Flocken weich ins Grab.

      Das siehst du nicht. Du find’st dich schön.

      Für dich sind Dicke sehr obszön.

      Wenn sie sich gar die Finger lecken,

      und gerne süße Speisen schlecken,

      dann dreht sich dir der Magen um.

      Des Halses Faltenwurf würgt stumm.

      Wie kann man nur so fettig essen!

      Die Welt ist wirklich arg verfressen.

       Werner Krotz

       meeresrauschen

      um mich herum sand

      und strandgewächse

      dem meeresrauschen

      darf ich lauschen

      eine wespe nascht

      von meinem fuß

      dem meeresrauschen

      darf