Der Wald verliert seinen Zauber, die gute Luft ist Hubert mittlerweile egal, das Gefühl stolzer Jägersmanneskraft sprießt nicht mehr. Der Wildschweinbedingte Stress wirkt sich negativ auf Herz und Kreislauf aus. Erich entgeht das nicht, daher lädt er seinen Freund zur sonntäglichen Rotwildjagd ein. „Da steht ein kapitaler Hirsch im Kaiserwald“, sagt er, „der gehört dir.“
…
Von fern tönt das Läuten zum sonntäglichen Frühgebet herüber. Letzte Nebelfetzen hängen noch zwischen den Bäumen am Rande der Lichtung und die ersten Sonnenstrahlen sägen sich schräg durch die dichten Baumkronen. Im Halbdunkel zwischen den Bäumen knackt es. „Der Hirschen“, flüstert Erich. Das Tier bemerkt sie nicht, trottet den Pfad entlang, knabbert an den Trieben einer Fichte, äst. Das Morgenlicht fällt auf die Stangen. Hubert stockt der Atem: „Es ist ein Zwölfender.“ Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn. Der Hirsch tritt an den Rand der Lichtung, Schussweite circa siebzig Meter. Nur ein Zweig ist noch innerhalb Huberts Schussfeld. Das Tier bleibt stehen, prüft den Wind, seine Lichter blicken in ihre Richtung. Huberts Herz schlägt wild, sein Puls rast, Blut wallt durch sklerotische Arterien. Äußerlich ist ihm jedoch nicht die kleinste Regung anzumerken, er verharrt bewegungslos und wartet ab. Ein zweites Tier, ein Schmalreh, taucht zwischen den Bäumen auf, der Hirsch ist abgelenkt, Hormone, Rauschzeit, der ewige Kreislauf des Lebens. Er stößt einen Brunftschrei aus und wendet sich der Rehdame zu. Hubert bekommt freies Feld und setzt einen hohen Blattschuss ab. Seine Hand zittert nicht, ein perfekter Schuss. Vielleicht ist es der Rückstoß seines Gewehrs, eines Blaser R8 success individual, oder es ist die Vorschädigung durch den Wildschweinstress, der das Unglück in Huberts Körper auslöst. Ein Gerinnsel, das sich an einer sklerotischen Passage in seinen Adern gebildet hat, löst sich, findet seinen Weg ins Huberts Gehirn und blockiert jäh und unvermittelt die Blutzufuhr. Der Jägersmann erleidet einen Schlaganfall, der augenblicklich sein Leben beendet. Hubert und Hirsch brechen im selben Moment zusammen, mause-, oder besser gesagt hirschen- und menschentot.
Welch ein Drama.
Später spricht der Arzt von der Freude und Aufregung, vom Bockfieber, das Hubert im wahrscheinlich besten Moment seines Lebens dahingerafft hätte. Emilie bemerkt dazu bitter, dass ihr Mann zu Beginn ihrer Liebe weitaus glücklichere Augenblicke erlebt hätte: „Jetzt möcht´ ich sterben, Emilie“, hätte er immer gesagt und sich von ihr herunter gewälzt, “was Schöneres kann es nicht mehr geben im Leben.“ Aber so wären sie eben, die alten Mannersleut, später fänden sie nur noch bei der Jagd eine Erregung. Die Familie ist peinlich berührt.
Auf der Beerdigung ertönen die Jagdhörner zum Hirschjagdruf:
„Hirsch tot! Den edlen Hirsch im tiefen Tann nach hoher herrlicher Pursch ich mir gewann. Halali Halala
Dörte Müller
Schritte in der Nacht
Irgendetwas hatte sie geweckt. Wie im Reflex richtete sie sich auf und lauschte in die undurchdringliche Dunkelheit. Hatte sie nur schlecht geträumt? Das kam in letzter Zeit häufiger vor. Sie blickte nach rechts. Das Bett war leer. Da fiel ihr ein, dass Tom wieder einmal auf Dienstreise war. Sie hasste es, wenn sie allein in diesem großen Bett schlafen musste. Außerdem fühlte sie sich einsam und verlassen hier in diesem abgelegenen Forsthaus mitten im Wald. Schade, dass sie keinen Hund mehr hatten. Der letzte war gerade vor einigen Wochen eingeschläfert worden. Hasso hatte immer gut auf sie aufgepasst, er hatte bei jedem Geräusch gebellt und sicher so manchen Einbrecher erfolgreich in die Flucht geschlagen. Doch jetzt war er tot und lag begraben im Garten unter der alten Eiche. Manchmal träumte sie noch von Hasso. Es waren schreckliche, beunruhigende Träume, die ihr jedes Mal das Blut in den Adern gefrieren ließen.
Angestrengt lauschte sie in der Dunkelheit. Ihr Herz raste. Sie blickte auf den Wecker. Es war zwei Uhr nachts. Sie konnte die Umrisse des Wandschranks erkennen. Es war ganz still. Sie hörte das Rauschen in ihren Ohren und wollte sich gerade wieder unter der warmen Decke verkriechen, da hörte sie eindeutig Schritte.
Sie kamen näher und näher. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Jemand war im Flur. Wie war er bloß in das Haus gekommen? Sie hatte doch alle Türen verriegelt. Oder doch nicht? Was war mit der Hintertür zum Garten? Jetzt fiel es ihr wieder ein. Sie hatte vergessen, die Hintertür abzuschließen! Wie hatte sie nur so dumm sein können! Was sollte sie tun? Sie hielt den Atem an. Die Schritte wurden schneller. Immer schneller. „Oh, mein Gott!“, dachte sie verzweifelt. Gleich ist er da. Was wollte er von ihr? Sie hielt die Luft an und versteckte sich unter der Bettdecke. Sie wollte schreien, doch die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Dann hörte sie, wie jemand die Türklinke herunterdrückte. Sie schmiss die Bettdecke von sich und tastete nach ihrem Küchenmesser, das irgendwo unter dem Bett lag. Für den Fall der Fälle hatte sie es dort einmal versteckt. Tom hatte gelacht. „Wir wohnen so weit draußen, da verirrt sich keiner hin!“ Wenn er nur wüsste, in welcher Notlage sie jetzt war! Tom, ihr geliebter Tom! Sie würde ihn nie wieder sehen! Hätte sie ihm doch bloß gestern noch gesagt, wie lieb sie ihn hatte. Noch nicht einmal einen Abschiedskuss hatte sie ihm gegeben. Es war entsetzlich. Wo war bloß das verdammte Messer? Ein Luftzug ließ die Gardine flattern, sie sah aus wie ein Gespenst. Noch bevor sie einen Laut von sich geben konnte, war er an ihrer Seite. Sie spürte seinen heißen Atem auf ihrer Haut. Jetzt war alles aus.
„Mami, ich habe Durst!“
Rainer Daus
Mohnblumenblüh'n
Durchschreitend ich des Waldes grausigste Tiefe.
Umwehend mich ein zornig kalter Wind.
Mir ist, als ob die Tiefe des Waldes mich riefe:
„Überwinde dich schon, du elendes Menschenkind!“
Doch dann, vor mir, ein weites Meer aus rotem Knospenblut.
Im hellsten Licht wächst üppigst himmelwärts der Mohn.
Verzagtheit weicht und aufkeimt frischer Lebensmut.
„Mohnblumenfeld, du! - Des müden Suchers höchster Lohn.“
Meine Augen geblendet – nie haben sie Schön'res geseh'n,
Nie Schön'res als dies' wildrote Schöpfungsglüh'n.
Und so will ich, dass niemals werde vergeh'n
Ein solch zartes und göttliches Mohnblumenblüh'n.
Hans von Ooyen
Wahre Geschichte aus meiner Stadt
Ob ich die Geschichte schon gehört hätte, die heute kaum noch jemand erzählen möge, fragte der Alte mich mit demselben forschenden Gesichtsausdruck, der mir bei unseren eher zufälligen Begegnungen der letzten Jahre wiederholt aufgefallen war, aber während ich noch darüber nachdachte, auf welche der vielen Geschichten, die man sich bei uns erzählt, er damit anspielte, während ich seinen