Hin- und Hergeschichten. Franz Hohler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Hohler
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347079205
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zuverlässiger Drucker, Leiter der schrumpfenden Buchdruckabteilung eines wachsenden Offsetbetriebes. Da er den jungen Arbeitern misstraut und sie sein Misstrauen auch rechtfertigen, macht er viele Arbeiten selber. Nach Feierabend braucht er noch eine Stunde oder zwei, um sich auf den folgenden Tag vorzubereiten und die Arbeit der Jungen, denen er nicht viertelstündlich über die Schulter zu schauen wagt, zu kontrollieren. Zu Hause erzählt er der Hemdenverkäuferin von Störungen im Arbeitsablauf und von Aufgaben, die anzupacken oder abzuschließen sind.

       J. Sch.

       Der Schrank

      Eine Frau stand einmal mitten im Wohnzimmer und schaute ihren Schrank an. Dieser Schrank war ein geerbtes Unding aus Kirschbaumholz, das fast die ganze Länge der Wand einnahm, an welcher er stand, und sogar noch ein bisschen in die Fensteröffnung der zweiten Wand hineinragte. Dies machte das ganze Zimmer etwas dunkler und erschwerte auch das allabendliche Schließen der Fensterläden, man musste sich ziemlich verrenken, um zum Ausklinkhaken des linken Fensterladens zu gelangen, ebenso, wenn man ihn am Morgen wieder einhängen wollte. Der Schrank reichte bis ganz knapp unter die Decke. Er war so groß, dass seinerzeit die Wohnung um den Schrank herum gesucht werden musste.

      Nun stand die Frau vor diesem Schrank und überlegte sich, was sie eigentlich hatte tun wollen. Sie trug einen Stapel schwerer Barchentleintücher auf ihren Händen, und jetzt kam ihr wieder in den Sinn, dass sie diesen Leintüchern einen neuen Ort zugedacht hatte, nämlich das unterste Fach des Kirschbaumschrankes und nicht wie bisher das mittlere Fach des Schlafzimmerschrankes. Dieses Fach hatte sie schon lange nicht mehr geöffnet, sie wusste nicht genau, was eigentlich darin versorgt war, vielleicht der Fondue-Caquelon oder der Raclette-Ofen, Dinge jedenfalls, die sie seit Jahren nicht mehr gebraucht hatte.

      Sie kauerte sich also nieder, öffnete, indem sie die rechte Hand mühsam unter den Barchentleintüchern hervorstreckte, das unterste Fach und schrie laut auf. Ein dunkler kleiner Schatten flitzte heraus, sie ließ die Leintücher sofort los, merkte, dass sie auf diesen Schatten fielen und stemmte beide Hände auf das Bündel, kniete auch darauf und drückte so lange mit ihrem ganzen Gewicht, bis sich unter den Leintüchern nichts mehr regte.

      Dann hob sie das Bündel vorsichtig auf. Darunter lag eine zerquetschte Ratte. Leicht wimmernd holte die Frau einen Plastiksack und eine Zeitung, fasste die Ratte mit der Zeitung an und warf sie in den Plastiksack und schmiss dann alles in den Abfalleimer. Als sie aufatmend in die Stube zurückging, hörte sie im Schrankfach ein Rascheln und ein Piepsen. Erst nach einer Weile wagte sie hineinzublicken, und da sah sie in der Kartonschachtel mit dem Christbaumschmuck ein Nest mit einem halben Dutzend kleiner Ratten, die hilflos und verstört in der Schachtel herumkrabbelten.

      Die Frau setzte sich auf die Barchentleintücher und schaute lange in den Schrank.

      Dann ging sie in die Küche, füllte ein kleines Schälchen mit Milch und stellte es zu den jungen Ratten in die Schachtel mit dem Christbaumschmuck.

       F.H.

       Wohngemeinschaft

      Mir kommt ein korsischer Winter in den Sinn, September 57 bis April 58, und unser Zusammenleben mit den Ratten.

      Mit den letzten Touristen waren wir an die Südspitze der Insel, nach Bonifacio, gelangt. Ein paar Wochen später gab es außer uns keine Fremden mehr im Städtchen, nur noch die algerischen Rekruten und Offiziere, die draußen, im ödesten Teil der Landzunge, zwischen Friedhof und Meer ihre Kaserne hatten. Mit der arabischen Musik, die in manchen Bars gespielt wurde, und mit dem Gleichschritt der Wache nachts in den Gassenschluchten waren sie eindringlich gegenwärtig. Wir haben sie nicht wirklich kennengelernt. Wir lebten mit den Korsen, auf dem Feld, im Buschwald und im Café, und die sorgten für Abstand. Als einer der algerischen Rekruten, weil ihm kein Weihnachtsurlaub zugestanden worden war, in unserem Lokal weinend und fluchend einen Tisch und Stühle zu zertrümmern anfing, schoben uns die Wirtsleute zusammen mit anderen zivilen Gästen nach hinten in die Küche. Jean, der im Alters- und lrrenheim als Koch arbeitete und der unter dem Hemd immer eine Pistole im Hosenbund trug, gab uns Rückendeckung. Als die Wache den verzweifelten jungen Mann abgeholt hatte, kehrten wir ins Gastlokal zurück. Die Armee, sagte Jean, vergüte solche Schäden zuverlässig.

      Der Wirt des Cafés, ein alter Einäugiger, dem einmal ein Flintenschuss in der verkehrten Richtung losgegangen war, hatte uns eine Wohnung vermietet. Außer der Küche und dem Schlafzimmer gehörte auch ein Dachboden dazu, zu welchem, dem hellblauen Kamin gegenüber, eine steile Holztreppe emporführte. An der Eingangstür, die zugleich die Küchentür war, fehlten Klinke und Riegel. Wir hatten uns angewöhnt, als Ersatz ein Messer mit einer langen Klinge zu verwenden. Es ließ sich so in den Bügel am Türrahmen einschieben, dass die Tür zu blieb.

      Hier also, und das ist es eigentlich, was ich erzählen wollte, wohnten wir mit den Ratten zusammen. Der Dachboden und der Schrank, der den Raum unter der Holztreppe einnahm, gehörte den Tieren; wir Menschen hatten für uns das Schlafzimmer reserviert. Die Küche teilten wir: tagsüber und abends gehörte sie uns allein, nachts den Ratten. Es brauchte eine Zeit der gegenseitigen Gewöhnung, bis alles klar war. Am Anfang fraßen die Tiere, wenn wir schliefen, was in der Küche herumlag, und stießen auch Teller und Gläser vom Tisch, dass sie auf dem roten Steinboden zerschlugen. Wir mussten unsere Habe im Schlafzimmer aufbewahren. Da wir den Ratten nur dann etwas vorenthalten konnten, wenn wir ihnen auch etwas gaben, fütterten wir sie mit altem Brot. Wir warfen die harten Brotstücke über die Treppe auf den Estrich und hörten beinahe gleichzeitig mit dem Aufschlagen des Brotes ein vielfüßiges Scharren und vielbäuchiges Rumpeln. Es war, als seien die Ratten längst schon im Kreis um die Stelle versammelt gewesen, an der das Brot hinfiel.

      Die Geräusche der Tiere waren uns vertraut geworden, aber wir bekamen sie nur selten zu Gesicht. Dabei hätten wir auf ein Scharren hin nur den Schrank zu öffnen brauchen, um uns zu versichern, dass sie grau, gelblich geschwänzt und flink waren. Wenn wir es nicht taten, gehörte das zu unserer nachbarlichen Übereinkunft. Es war ja gerade die Scheu, die uns verband und die dem Gefühl der Achtung sehr ähnlich war.

       J. Sch.

       Ratten

      In China wurden früher Ratten zum Vollzug von Hinrichtungen eingesetzt. Man befestigte zum Beispiel einen Käfig am Bauch des zum Tode Verurteilten und setzte eine Ratte hinein, die dem Unglücklichen nach und nach die Eingeweide herausfraß. Solche Hinrichtungsarten nannte man «Langsamer Tod», und sie wurden nur zur Sühne von besonders schweren Verbrechen angewandt. Übrigens enden die alten chinesischen Kriminalromane nicht einfach damit, dass der Täter aufgespürt und erwischt wird, sondern es wird immer noch haargenau beschrieben, wie man ihn bestraft. In Schanghai habe ich eine Oper gesehen, die damit aufhört, dass die hintergangene Frau mit Hilfe von vier Dienerinnen ihren Mann verprügelt. Über dieser Szene schließt sich der Vorhang, und die Zuschauer sind höchst zufrieden. Diese Oper, sagte man mir, gehöre zu den populärsten im südlichen China und sei ein klassisches Werk. Und heute?

      Heute sind alle Chinesen freundlich. Sie winken die Touristen unermüdlich in ihre Reisebusse, bringen verlorene Brieftaschen über große Distanzen zurück, und schon die Vierjährigen sitzen ganz ruhig an ihren Tischehen im Hort und schauen lächelnd vor sich hin. Zwei Velofahrer, die frontal zusammenstoßen, rappeln sich auf, prüfen ihre Fahrräder, wechseln ein paar Worte und fahren dann weiter, verdutzt, nicht empört. Ich war drei Wochen in China und habe fast nie ein böses Wort gehört. Einmal, gegen Ende der Reise, habe ich eine unserer Dolmetscherinnen, eine sehr zarte Person, am Morgen gefragt, ob sie in der Nacht geträumt habe. Als sie ja sagte, habe ich sie gefragt, wovon, und da sagte sie, vom Teufel.

      Da war ich beruhigt.

       F.H.

       Der weiße Chinese

      Ich habe von einem Chinesen geträumt, einem grauhaarigen Mann zwischen fünfzig und sechzig in einem weißen baumwollenen Arbeitskittel. Er saß auf einem Küchenstuhl am Rande einer Weide, in einer mir vertrauten Landschaft bei Hugelshofen im Kanton Thurgau, neben einer weißen Badewanne, die als Kuhtränke diente. Sein rechter Arm lag auf der gerundeten Kante, die Hand