Als ich Stunden später über die Hecken und Weiden hinausschaute, sah ich das Insekt aus den Augenwinkeln wieder. Es kroch in der Fensternische empor, indem es das Beinpaar am Rumpfende leblos hinter sich her zog. Auf der Höhe meines Kopfes blieb es stehen und verharrte.
Um Mitternacht legte ich mich auf die Matratze neben dem Tisch. Gegen zwei oder drei Uhr weckte mich eine Bewegung meiner eigenen Hand, ihr Schlag auf meine linke Wange. Ich hatte dort, wie ich mich nun erinnerte, ein Kitzeln gespürt, glaubte auch, etwas Bewegliches weggewischt zu haben. Ich machte Licht und suchte am Boden herum, fand aber nichts. An den verschiedensten Stellen fing es mich zu jucken an. Ich strich über die Stirn, über einen Arm, über ein Knie und fasste dann, schon wehrlos lachend, an den Nacken. Hier spürte ich es: so plötzlich hart und zerbrechlich konnte nur etwas Wirkliches sein. Ich wischte es auf den Boden. Es war der Käfer. Er bewegte bloß noch das vorderste Beinpaar und die krummen Fühler. Mit dem Finger drückte ich seinen Kopf in den Teppich. Er war nicht leicht zu töten. Nun liegt er vor mir auf dem Tisch, den Kopf dicht an der Platte, mit schräg aufragendem Hinterleib. Und ich weiß nicht, ob ich mich jetzt, da unsere Geschichte zu Ende und aufgeschrieben ist, behaglicher fühle, oder wie.
J. Sch.
Der Zuruf
«Wohin des Wegs?» rief mir ein Insekt zu, das sich an eine Haustüre lehnte.
«Nach Winterthur!» rief ich fröhlich zurück und ging weiter. Plötzlich dachte ich, was war das eigentlich für ein Insekt? Ruft einem Dinge zu, lehnt an einer Haustür. Ich drehte mich um, und tatsächlich lehnte das Insekt immer noch an der Haustür, gut menschengroß, hatte eines seiner Beine auf die Klinke gedrückt und ließ die Fühler über das Treppengeländer baumeln.
«Ist etwas?» rief es mit scharfer Stimme.
«Nein!» rief ich zurück, «nein, keineswegs!»
Ich versuchte, so weiterzugehen, als ob nichts wäre, aber ich beschleunigte doch meinen Schritt, und ich beschleunigte ihn noch mehr, als ich hinter mir ein Trampeln hörte, und als ich spürte, wie etwas meinen Nacken streifte, rannte ich, wie ich in meinem Leben noch nie gerannt war.
F.H.
Auf der Terrasse
Ich sitze in einem Korbstuhl auf einer Holzterrasse, die steilen, dunklen Bergwäldern zugewandt ist.
«Schnellläufer» nennt mich eine der Pflegerinnen, manchmal sogar «unser tapferer Schnellläufer».
Dass ich so heiße, wie die übrigen Pflegerinnen und die Ärzte mich nennen, habe ich auf dem Führerschein nachgeprüft. Auch mein Vorname, Rudolf, scheint zu stimmen. Meine Frau, sie saß heute stundenlang in einem unserer Stühle, sagte «Rüedel» zu mir. Sie ist eine sehr sympathische Erscheinung! Einzig ihre Unart, jede Mitteilung wie eine Frage zu betonen – die Ermunterung zum Essen wie die Nachricht über Schulschwierigkeiten der Kinder –, hat mich nervös gemacht. Gegen Mittag zog sie die weiße Strickjacke aus und ließ mich ihre Schlüsselbeine sehen. Ein wunderbarer Anblick, diese gespannte Haut über den beiden schattenwerfenden Knochen unter dem Hals! Sie heißt Sylvia, mit Ypsilon. Das kann ich auf einem Zettel, den sie hinterlassen hat, jederzeit nachlesen. Ich war, ehrlich gesagt, doch fast ein wenig erleichtert, als sie wieder ging.
Die Sonne steht jetzt tief. Die Zweige der Eberesche, die über die Brüstung auf die Terrasse hereinragen, sehen aus wie gespreiztes Gefieder. An der alten Hausmauer wächst eine braungraue Schüsselflechte, Parmelia omphalodes.
J. Sch.
Der Korbsessel
Ich war schon eine Weile wach und konnte immer noch nicht glauben, dass ich in einem Korbsessel saß, oder lag, denn eigentlich war es so, dass ich mit dem Oberkörper saß und mit den Beinen lag. «Was soll ich hier?» dachte ich und schaute zum Fenster hinaus, wo man unter den halb heruntergelassenen Markisen eine Allee sah.
Nun näherte sich eine Gruppe von Weißgekleideten, in der Mitte ein großer Mann mit einer Brille. Als ich diesem die Hand geben wollte, spürte ich, dass ich sie nicht von der Lehne des Korbsessels heben konnte. Bevor ich ein Wort hervorbrachte, hatte mich der Große schon kurz angeschaut, hatte «Der bleibt noch» gesagt und war mit seinen Leuten weitergegangen.
Ich versuchte immer noch, meine Hand zu heben, und merkte nun, dass sie an der Lehne angewachsen war, mehr noch, dass die Adern auf dem Handrücken aus demselben Bast waren, aus dem auch die Korbsessel bestanden, und als ich den Kopf mit Mühe zu den andern Patienten wandte, sah ich, dass bei einigen nicht nur die Arme aus Bast waren, sondern auch das Gesicht und der ganze Oberkörper, ja dass sie zum Teil vom Korbsessel kaum zu unterscheiden waren, und als ich nun, endlich, meine Stimme erheben konnte und nach einer Krankenschwester rief, tauchte zuhinterst auf der Terrasse, mit leicht schleppendem Gang, ein wirres Bündel von Bast und Weiden unter dem Arm, ein Korbflechter auf und kam, neben den andern Sesseln vorbei, langsam auf mich zu.
F.H.
Ein Stuhl
Seine vier runden Beine sind mit Sprossen verstrebt und suchen in einer leichten Grätsche sicheren Stand; die beiden vorderen enden unter dem Sitz, die beiden hinteren gehen in den tragenden Teil der Lehne über, deren Querstäbe mit einer Biegung dem menschlichen Rücken entgegenkommen. Die Sitzfläche aus dünnem Sperrholz ruht, mit Rundkopfnägeln befestigt, auf einem Rahmen. Eine Mulde in der Mitte des Sitzes räumt dem Gesäß Platz ein. Sie ist mit einer zweiseitig symmetrischen Prägung verziert. Das Ornament erinnert an einen Pfau, der seine Schwanzfedern fächerförmig ausbreitet: aus einem von eingerollten Blättern flankierten Oval, einem Medaillon, wachsen organische Linien nach drei Seiten zum Rand des Kreises. Das ganze Zeichen lässt sich auch als Spiegelung jener Körperteile lesen, die sich, wenn der Stuhl benutzt wird, unmittelbar über der Sitzfläche befinden.
Möbel, das verdeutlicht dieser Stuhl, stellen, wie Küchengeräte und Werkzeuge, Abbildungen unseres Körpers dar. Wenn wir einmal ausgestorben sind, lässt sich unsere Gestalt aus der Einrichtung unserer Wohnungen und Werkstätten zuverlässig ermitteln. Unser Wuchs und die Bewegungsmöglichkeiten unserer Schulter-, Ellbogen- und Handgelenke werden an Türen, Schubladen und Kaffeemühlen abzulesen sein. Für die Rekonstruktion unserer unteren Teile werden Stühle unschätzbare Dienste leisten.
J. Sch.
Mein Tisch
Mein Tisch ist sehr groß.
Wenn ich beide Arme ausbreite, was sage ich, ausspanne, als wollte ich mich wie ein Adler erheben und davonfliegen, dann bleibt immer noch links und rechts ein Stück. Lehne ich mich ganz nach vorne über den Tisch wie ein Säufer, gelingt es mir nicht, mit den Fingerspitzen den vorderen Rand zu erreichen, meine Hände liegen dann auf den Manuskriptmappen, die in verschiedenen Haufen fast die ganze Länge des Tisches besetzen. Zuoberst sind die Arbeiten, die ich nächstens in Angriff nehmen will, das heißt das Material und die Notizen dazu, oder die Textsammlungen, die ich ab und zu ergänze, zum Beispiel «Gedichte» oder «Parodien» oder «Übersetzungen», und darunter liegen die Mappen mit älteren Sachen. Die Haufen sind so hoch, dass ich bei den meisten nicht mehr weiß, was zuunterst liegt.
Rechts außen stehen einige Notizbücher und ein Duden, daneben auch leere Bücher, Blindbände, die ich irgendwann einmal von Verlagen ergattert habe und irgendwann mit etwas zu füllen gedenke.
Dann kommt ein Umschlag mit Botschaften meiner Kinder, die ich mir aufhebe, also Zettel, die sie mir auf den Tisch legen oder an die Türe kleben, wenn ich nicht da bin, und auf denen Sätze stehen wie «Schlaffe bei Lukas. Kaspar».
Die leeren Blätter, die Briefpapiere, die Briefkuverts und die Kohlepapiere sind auch auf der rechten Seite.
Links von mir Briefe mit Bitten um Beiträge zu Anthologien, bei den meisten habe ich auf den