Während des Landevorgangs hatten die Bewegungssensoren von K-2 bereits wieder die ersten Exemplare der Ameisen detektiert, die sie schon von den ersten Expeditionen her kannten. Jerik schaute sich den Videostream an und sah, wie die Tiere schnell auf dem braunen, feinen torfähnlichen Boden zwischen den Kugelbüschen und dem angrenzenden Bambuswald hin- und herhuschten.
Laut ISA handelte es sich um eine neue Art, die zu achtunddreißig Prozent von Myrmeciinae, australischen Bulldogameisen, abstammte. Schon diese hatten Körperlängen von fünf Zentimetern erreicht, die Exemplare der neuen Art hier waren jedoch zwischen sieben und elf Zentimetern lang. Zudem waren sie geflügelt, sodass ihre Körper schwarzen asiatischen Riesenwespen ähnelte. Die Ameisen hier waren jedoch nicht schwarz wie es diese Wespen waren, sondern silbrigweiß glänzend, genauso wie der Bambuswald und die Schachtelhalme. Ihr Kopf, die Beine und die Mundwerkzeuge waren ebenfalls von feinen weißen Härchen bedeckt, die fast alles Licht reflektierten. Auf diese Weise schützten sich auch die Tiere vor der starken UV-Strahlung sowie Überhitzung. Laut ISA waren sie auch zu zweiundzwanzig Prozent mit sogenannten Silberameisen verwandt, die früher in der Sahara gelebt und denselben Schutzmechanismus verwendet hatten.
Jerik hatte auch das Gift analysiert, das sie bei Bedrohung aus dem Stachel am Ende ihres Hinterleibs versprühten. Es bestand aus einer Vielzahl verschiedener Peptide, die zur Pilosulin-Reihe gehörten. Es war damit so giftig, dass die bei einem einzigen Stich abgegebene Giftmenge leicht einhundert Menschen töten könnte.
Jerik wusste, dass sie hier mit entsprechenden Attacken rechnen mussten. Die Tiere konnten ihr Gift in einem Strahl bis zu zwei Meter weit sprühen. Schon ein winziges Tröpfchen davon in Auge, Nase oder Mund oder in eine kleine Hautverletzung würde absolut tödlich sein. Er hatte daher die notwendigen Schutzmaßnahmen getroffen und ein Antiserum entwickelt, trotz der schon für die Insel optimierten Schutzanzüge. Es war in beiden Koptern sowie im Lazarett auf dem Sub gelagert, und auch die Bots hatten Spritzen dabei, um ihm im Notfall sofort helfen zu können.
»Übel giftig, was!« fand B1.
»Ja, aber nur für mich«, antwortete Jerik, und fing schon fast wieder an, B1 zu beneiden.
«Trotz allem toll! Lass uns da runter gehen. Ich will in den Wald! Vielleicht gibt es sie ja doch irgendwo.«
Er meinte natürlich die Bienen.
Dass er hier live die Ameisen sehen konnte, sie zudem heute auch schon mit den Schachtelhalmen eine neue Pflanzenart gefunden hatten und schon bei den beiden vorangegangenen Expeditionen auf typische Brutstellen und mögliche Überreste von Bienen gestoßen waren, verstärkte in ihm die Hoffnung, weitere Entdeckungen zu machen und vielleicht doch noch auf Bienen zu treffen, eventuell sogar kleinere Kolonien.
Auch Jeriks Kopter begann jetzt den Sinkflug hinab zur Lichtung.
K-2 hatte die Luft vor Ort schon analysiert. Sie war erfüllt von Fäulnis- und Verwesungsgasen, vor allem Schwefelwasserstoff, Buttersäure und Thiolen, die überall aus dem feuchtheißen Boden entwichen, worin sie bei der Zersetzung der riesigen Mengen abgestorbener Pflanzen freigesetzt wurden. Die Werte erschienen in grellem Rot im zentralen Info-Feld in Jeriks Eyefoil, was sofort signalisierte, dass man sich hier tatsächlich nicht ohne Atemschutz aufhalten konnte.
Jerik kannte die Analysewerte auch schon von den Vorexpeditionen und wusste, dass diese Substanzen in der vorliegenden Konzentration sehr giftig waren. Jede für sich würde schon unmittelbar einen starken Brechreiz hervorrufen.
Das SSI machte daher in diesem Moment auch mit seinem typischen schrillen Warnton und grellroten, pulsierenden Atemluft-Icons darauf aufmerksam, dass es Jeriks Helm für den Außenaufenthalt soeben auf 'Deko'-Modus umgeschaltet, die Dekontaminationseinheit darin also aktiviert hatte. In seiner Eyefoil fing das blaue Deko-Symbol zu blinken an. Sie funktionierte ähnlich wie die große Deko-Anlage an Bord des Subs. Die Luft wurde dazu chemisch analysiert und Giftstoffe mit elektromagnetischen Wellen bestrahlt, die sie in ungefährliche Komponenten zerlegten. Giftige Elemente wurden ganz herausgefiltert.
»Oh Mann, das riecht ja sicher super!« meinte B1 und lachte, denn er benötigte ja keine Atemluft.
»Kein Problem für uns, oder?!« antwortete Jerik cool, »Dir kann es ja ohnehin egal sein, und ich werde mich eben auf die Deko verlassen.«
B1 nickte.
»Natürlich!«
Jerik blickte sich noch einmal kurz um, um sich zu vergewissern, dass der riesige Schachtelhalm tatsächlich das interessanteste Ziel hier war und auch von der Lichtung aus relativ leicht zugänglich. Etwas weiter unterhalb von ihrer momentanen Position wuchsen zwar auch einige große Exemplare, sogar ziemlich dicht nebeneinander, allerdings war dieser Teil der Insel hier an der Westflanke ziemlich steil, weshalb sie für ihn momentan nicht weiter in Betracht kamen.
»Okay, wir gehen runter!,« entschied Jerik und markierte die Sphäre über dem Sechzehn-Meter-Exemplar als neues Ziel, worauf diese sofort blau wurde.
»Ich schicke die Bots schon los, okay?« wollte B1 wissen, und meinte damit die Gruppe an Bord von K-2.
Sie mussten zunächst eine Schneise von sechs Metern Breite von der Lichtung aus dorthin schlagen, weil Jerik nicht einfach so durch den Wald gehen durfte. Die Bots mussten ihn dort gegen mögliche Angriffe gefährlicher Tiere schützen können, was ausreichend freie Sicht und genügend Platz in seiner Umgebung erforderlich machte.
Jerik beobachtet, wie der Kopter unten auf der Lichtung soeben seine Heckklappe herunter ließ. Sie stoppte kurz bevor sie die Kugelbüsche berührt hätte in horizontaler Position. Sofort erschienen die vier Bots in ihren weißen Schutzanzügen in der Luke und glitten geschmeidig fast gleichzeitig über die Klappe hinunter auf die Lichtung, wo sie ganz gezielt zwischen den Büschen aufkamen. Jeder hatte einen großen Ultraschall-Cutter in der rechten Hand, um damit gleich die Bambusstämme entfernen zu können und so die Schneise zu dem riesigen Schachtelhalm anzulegen. Mit geschmeidigen Bewegungen liefen sie weiter auf den im Schatten liegenden Ost-Rand der Lichtung zu, wobei bei jedem ihrer Sprünge das Wasser aus dem vollgesogenen Torfboden weit zur Seite spritzte.
»Okay,« meinte B1,« ich denke, wir können auch.«
Es war 7: 48 Uhr.
Die Bots waren unten gerade schon im Wald verschwunden. Sie würden von nun an wie eine einzige Maschine zusammenarbeiten, um die Bambusstämme im Sekundentakt vom Boden abzutrennen und diese gleichzeitig zu zerlegen und zur Seite zu schaffen.
Doch dazu kam es nicht mehr.
In Jeriks Eyefoil wurde in diesem Moment der Hinweis auf eine sogleich eingehende Kategorie-1-Nachricht eingeblendet, was bedeutete, dass diese nicht einfach zu Seite geschoben werden konnte, um sie später zu lesen. Es musste also etwas sehr Wichtiges sein.
»Warte! Oh Mann! Hinchiranan! Wichtige Nachricht!« las er B- 1 vor.
Pussana Hinchiranan war die Chefin der CC- und FF-Labore auf Byrd Island und Finistere und damit Jeriks direkte Vorgesetzte. Dass sie sich auf diese Weise bei ihm meldete, war noch nie vorgekommen und Jerik wusste sofort, dass nur gravierende Veränderungen an den geplanten Aktivitäten der Grund dafür sein konnten.
Selbst B1 schien verblüfft und zog die Augenbrauen hoch.
»Hoppla, was liegt an, sind wir umsonst so früh aufgestanden? Hat sie das Projekt gestrichen? Oder geht es jetzt erst richtig los? «
»Das war's wohl für heute«, prognostizierte Jerik, und er hatte Recht.
Hinchiranan schickte gerade schon die neue Order.
Streng geheim !!!
Expedition auf Isla Deceit sofort beenden!
Benötigen Deine Unterstützung!
Schnellstmögliche Rückkehr nach Byrd Island!
K-2 und Besatzung können Untersuchungen auf Isla
Deceit wie geplant heute noch weiterführen.
Rückkehr