B1 schickte nur ein »okay« zurück, das in Jeriks Eyefoil im Com-Feld unten grün aufleuchtete.
Wie erwartet, stimmte B1 zu, denn auf Finistere hatten sie bereits abgesprochen, zunächst selbst über die Insel zu fliegen, um sich ein aktuelles Bild von den hier herrschenden Verhältnissen zu verschaffen, trotz der schon mehrfach durchgespielten Simulationen. Jerik hatte die Genehmigung des SSI für diese Vorgehensweise bekommen und durfte die Routen auch selbst bestimmen. Nur bei Gefahr würde das System natürlich die Steuerung wieder übernehmen.
Jerik wies die Kopter über Audiobefehl an, in einer großen Schleife zuerst über den Hauptkamm und dann zur Nordspitze der Insel zu fliegen. Dabei skizzierte er genau die gewünschte Route auf der Karte und klickte den Flug-Button im Kopter-Steuerfeld in seiner Eyefoil.
Beide Kopter meldeten ein 'Ready Go Fly' und setzten sich in Bewegung.
Jerik blickte hinunter. Die nackten, dunkelgrauen Klippen, kamen langsam näher. Diese trennten wie ein dunkles Band den grellweißen Wald und das milchig trübe, gelbgrüne Meer in der Bucht, die sie jetzt schnell hinter sich ließen.
Als sie die Felsen der Küstenlinie überflogen, sahen sie, wie die hochspritzende Gischt der gerade dagegen krachenden Brecher vom Wind in den Wald getrieben wurde. Das SSI markierte sofort die betroffenen Bereiche als grellviolette Gefahrenzonen. Ein breiter Bereich entlang der gesamten Küstenlinie war rot eingefärbt.
Jerik steuerte den Kopter darüber hinweg und ging in dreißig Metern Höhe über den Wipfeln des Bambuswaldes in Tiefflug. Dazu bremste er den Kopter stark ab und schwebte im Schritttempo weiter. K-2 verlangsamte sein Tempo ebenfalls, um den Abstand zu ihnen zu halten.
Da die Blätter des Bambus im Wind und Luftstrom der Kopterdüsen stark hin- und herwedelten, machte er erst gar keinen Versuch, sie von hier aus im Zoom seiner Eyefoil näher zu betrachten.
Die Stämme selbst bewegten sich jedoch selbst jetzt überhaupt nicht. Er wusste, dass es sich um eine neue Art von Bambus handelte, mit kleinen lanzenförmigen, silbrigweiß glänzenden Blättern. Die Stämme erreichten eine Höhe von etwa zwölf bis fünfzehn Metern und standen so dicht, dass von hier oben kein Blick weiter in den Wald hinein oder gar zum Boden möglich war.
Die beiden Kopter schwebten weiter langsam über die Ostflanke auf die höchste Erhebung der Insel zu.
Rechts von ihrer Flugbahn erhob sich jetzt der Ausläufer, welcher die Bucht, in der das Sub lag, an ihrer Nordseite begrenzte. Seine Südflanke verlief zunehmend steiler und bot so beim Vorbei- und Hinaufschweben momentan die beste Sicht auf die seltsam weißen Bäume. Jerik betrachtete sie fasziniert. Ihre Äste und Blätter wiegten sich im Wind hin und her und sahen wie von Raureif überzogen aus.
Die Sonne, der violette Himmel, die strahlend weiße Insel, …. diese kaputte Welt kann sogar schön erscheinen, dachte Jerik.
Ihm fiel die Landschaft in Nähe des Südpols ein und den seltenen weißen Kappen in dieser antarktischen Hochgebirgsregion.
Die beiden Kopter gewannen weiter an Höhe und überquerten jetzt den Hauptkamm. Hier im nördlichen Teil der Insel fiel die Westseite deutlich flacher zum Meer ab, als die Ostseite, während es im südlichen Inselteil genau umgekehrt war.
In einer langen Rechtskurve flogen die beiden Kopter nach Norden weiter. In auffallend gleichmäßigen Abständen von etwa einhundertdreißig Metern existierten hier überall runde und leicht ovale Lichtungen, die von abgefallenen, jedoch nach wie vor weißen Bambusblättern bedeckt waren. Wegen des Schattenwurfs der Bäume am Rand dieser Vertiefungen waren diese Stellen im weißen Wald gut zu erkennen. Als Ursache für ihre Existenz hatte Jerik schon nach der ersten Bot-Expedition herausgefunden, dass rivalisierende Ameisenvölker hier mit ihrer Überlebensstrategie das Wachstum des Bambus verhinderten.
Nach einer weiten Linkskurve aufs Meer hinaus nahmen die beiden Kopter Kurs auf den südlichen Inselteil. Dort lag die Lichtung, die sie als ersten Landeplatz ausgewählt hatten. Sie befand sich in sicherer Höhe vor der Gischt auf dem Grat des Höhenzuges und bot ausreichend Fläche zum gleichzeitigen Landen beider Kopter.
»Wusstest Du, dass es hier auch mal richtig gekracht hat«, fragte B1, als sie gerade in rund einhundert Metern Höhe den flachen Nordwestteil der Insel überflogen.
»Was meinst Du mit 'richtig'?« Jerik fiel gerade nur ein, was sich hier vor einhundert Jahren ereignet hatte. Das meinte B1 aber offensichtlich nicht.
»Ich habe gerade etwas Neues entdeckt!«, erklärte dieser. Ich zeig's Dir! Achtung, ich schalte den Kopter weg!«
B1 wusste, dass Jerik schwindelfrei war und es ihm nichts ausmachte, wenn die Ansicht des Kopters und der komplette Innenraum aus seiner Eyefoil ausgeblendet wurde.
Okay, no Prob! dachte Jerik, Bird's-Eye-View!
»Schau mal runter!«
Er folgte B1's Aufforderung. Isla Deceit lag wieder ohne den Bambuswald unter ihnen. Selbst das Meer war jetzt verschwunden, sodass Jerik nur den felsigen Untergrund der Insel und des Meeresbodens sah. In dieser Steinwüste war jetzt ein ziemlich erodierter Einschlagskrater zu erkennen, der sich über die gesamte Breite der Insel und mit eintausendsiebenhundert Metern Durchmesser weiter bis in die Bucht erstreckte. Dort, direkt über seinem äußersten östlichen Punkt, sahen sie auch das Sub an der nicht mehr sichtbaren Meeresoberfläche schweben.
B1 lieferte sofort eine Analyse, die er von den Rechnern gerade hatte erstellen lassen.
»Vor dreiundzwanzig Millionen Jahren ist hier ein mächtiger Brocken reingerauscht. Durchmesser siebzig Meter, Typ S. Ähnelt damit Asteroid 2197LJ.«
»Bis auf die Größe!, natürlich«, korrigierte er seine Aussage, denn er sah Jerik an, dass dieser nicht ganz mit seinem letzten Satz einverstanden war.
Wie alle in Antarktika wussten, stellte Asteroid 2197LJ eine globale Bedrohung dar, denn er war wesentlich größer, als es dieser vergleichsweise kleine Felsbrocken hier gewesen sein musste. Mit dem enormen Durchmesser von dreiundzwanzig Kilometern war 2197LJ neben der Klimakatastrophe immer noch die größte Bedrohung für die Menschheit. Bei einem Einschlag würde er mit Sicherheit auch gewaltige Schäden an den Kuppelbauten und der Infrastruktur hervorrufen, wenn er nicht sogar Antarktika vollständig zerstören würde. Die vorhergesagte Einschlagstelle lag im südlichen Afrika und damit ziemlich nahe am Südkontinent. Er war erst im Jahr 2197 entdeckt worden und die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest Teile von ihm im Jahr 2211 tatsächlich die Erde treffen würden, lag nach heutigem Stand bei über fünfzig Prozent. Genauer ließ sich dies nicht berechnen, weil er kurz vor dem Einschlag Jupiter passieren würde. Es war sicher, dass er dabei unter dem Einfluss der enormen Schwerkraft des Riesenplaneten in mehrere Bruchstücke zerbrechen würde. Wie diese geformt sein würden und welche Größe sie im einzelnen haben würden, war prinzipiell nicht vorhersagbar und damit auch nicht ihre genauen weiteren Flugbahnen, die auch noch durch die Monde des Planeten weiter beeinflusst würden.
Seit der Entdeckung von 2197LJ arbeiteten hunderte Spezialisten an seiner Zerstörung oder Abwehr, sodass es erst gar nicht zu diesem Szenario kommen würde. Ob sie ihn rechtzeitig vernichten oder ablenken konnten, war wegen seiner enormen Größe überhaupt nicht sicher. Die Vorwarnzeit war extrem kurz und sie hatten durch die Klimakatastrophe wertvolle Jahre verloren. Er war, wie sie seit seiner Entdeckung wussten, der Erde im Jahr 2105 schon einmal sehr nahe gekommen. Die Menschen waren damals aber ausschließlich mit ihrem Überleben und dem Aufbau Antarktikas beschäftigt gewesen und hatten ihn nicht bemerkt. Teleskope gab es zudem erst wieder seit wenigen Jahrzehnten.
»Danke für die Info, sehr schön! Was weißt Du noch?«
Jerik tippte auf die virtuelle Schaltfläche für die normale Ansicht in seiner Eyefoil. Der Wald und das Meer erschienen wieder.
B1 setzte eine besorgte Miene auf.
»Das wird Dir wahrscheinlich noch weniger gefallen. Die aktuellen Daten aus Finistere.«
»Tsunami?«
B1 lächelte kurz.