Doch Redbulls wütender, unüberlegter Ruf beseitigte Chads letzte Zweifel. „Verdammt noch mal, sicher ist er allein! Worauf wartest du, Mann? Knall ihn nieder!“
Jess, der versucht hatte, die aus Pinienbrettern gezimmerte Theke zu erreichen, blieb ruckartig stehen. Seine Augen blitzten Redbull zornig an. „Idiot! Allein oder nicht – solange er den Finger am Drücker hält, haben wir auch zu dritt keine Chance gegen ihn. Ich kenne ihn besser als du. Hättest du das Maul gehalten, du Blödmann, dann wäre er auf die Nase gefallen, bevor er gewusst hätte, was los ist. Jetzt hast du den Dreck.“
Jess wandte sein hageres Gesicht Chad zu. Er grinste verkniffen. „Überrascht, Kelly?“
Chads Herz schlug wie eine Trommel. Er dachte an die Angst und Verzweiflung, die er in Tom Bancrofts sonst so kalten, herrischen Augen gesehen hatte. Seine Kehle trocknete aus. Das Gewicht des 45ers in seiner Faust schien sich zu verdoppeln. Er sah jede Einzelheit von Jess lauerndem Raubvogelgesicht wie durch ein Vergrößerungsglas. Er dachte an die Gräber von Jim McDunn und die der beiden anderen ermordeten Bancroft Cowboys.
Er hörte seine eigene rissige Stimme wie die eines Fremden. „Warum habt ihr das getan, Jess?“
„Warum?“ Bancrofts ältester Sohn lachte rau auf. „Weil es die große Chance war, endlich von der Ranch, den Rindern und der ganzen miserablen Plackerei wegzukommen! Versteht du, Kelly? Larry und ich hatten es schon lange satt, mit der Nase immer nur im Dreck zu stecken und wie Puppen nach der Pfeife des Oldman zu tanzen, gründlich satt! Alles, was uns fehlte, war eine Menge Geld, um uns selbständig zu machen – und ein Partner wie Jefford, der verhindern würde, dass man uns dieses Geld wieder abknöpfte. Glotz mich nur nicht so an, als wolltest du mich mit Haut und Haaren verspeisen. Ich bereue nichts. Ich würde McDunn jederzeit wieder eine Kugel aufbrennen, wenn ich mir damit meine Freiheit und die Taschen voller Geld verdienen könnte.“
„Jess, dein Vater …“
„Fang nicht mit dem Alten an, Kelly! Der ist selber schuld, dass alles so gekommen ist. Bei dem dreht sich doch nur alles um Weide, Wasser und Rinderpreise …“
„Wenn es so wäre, dann hätte er nicht alles liegen und stehen gelassen und wäre nicht mit sämtlichen verfügbaren Leuten losgeritten, um euch aus Jeffords Gewalt zu befreien.“
„Uns? Dass ich nicht lache! Dem geht es doch nur um das Geld, um die vierzigtausend Bucks, mit denen er weiß der Teufel was wieder auf die Beine stellen kann. Und du, Kelly, du verdammter Narr, hilfst ihm dabei auch noch, riskierst dafür dein Leben! Für was denn? Für ein paar geschwollene Sprüche und ein Butterbrot hinterher, vorausgesetzt, dass es dieses Hinterher überhaupt für dich gibt. Dabei würdest du auf unserer Seite nicht schlecht abschneiden. Der Kuchen ist groß genug, um auch für dich …“
„Gib dir keine Mühe, Jess. Du solltest mich besser kennen. Lass ja den Revolver stecken. Dasselbe gilt für deine Freunde.“
„Das wird dir noch leid tun, Kelly …“
„Wo ist Larry?“
„Hier!“, meldete sich die gepresste Stimme von Jess‘ jungem Bruder vom Vordereingang.
Jess‘ Augen blitzten. „Gib‘s ihm!“, schrie er.
Chad wirbelte herum. Obwohl alles rasend schnell ging, prägte sich ihm Larrys drahtige, wie zum Sprung geduckte Gestalt in der offenen Tür deutlich ein. Ein orangefarbener Blitz zuckte aus der an der Hüfte liegenden Faust des jungen Mannes. Der ohrenbetäubende Knall erstickte jeden Laut in der Bodega.
8
Die blitzartige Drehung rettete Chad das Leben. Er ließ sich fallen, und noch im Sturz fühlte er den Rückstoß des eigenen 45er Colts in der Rechten. Dann, als er auf dem festgestampften Lehmboden lag, begriff er erst so richtig, was passiert war. Larry hatte die Waffe fallengelassen. Er lehnte am Türrahmen, kreidebleich, eine Hand auf der Brust, dort, wo sein Herz pochte. Und unter dieser Hand breitete sich ein dunkler Fleck immer mehr aus: Blut.
Jess‘ wilder Schrei riss Chad aus seiner momentanen Erstarrung. Er schleuderte sich herum. Smiley und Redbull hatten ihre Colts gezogen. Feuer und Rauch quollen aus den Mündungen. Es krachte, als würde die Bodega in sich zusammenstürzen. Chad feuerte zurück, rollte über den Boden und warf einen klobigen Tisch um. Querschläger jaulten durch den Raum. Redbull brüllte wie ein angeschossener Büffel und schwankte heftig hin und her. Der Pulverdampf breitete sich wie beißender Nebel über den Tischen und der Theke aus. Kugeln hieben in die vor Chad hochragende Platte. Holzsplitter wirbelten ihm um die Ohren.
Auf der Straße trommelte Hufschlag. Rufe gellten. Jess war zu seinem jungen Bruder gerannt, konnte ihn jedoch nicht mehr festhalten. Mit einer halben Drehung stürzte Larry vor ihm aufs Gesicht. Jess stockte, griff sich an die Kehle und starrte bewegungslos auf ihn hinab. Er war taub und blind für alles, was um ihn vorging.
Redbull wälzte sich am Boden und brüllte immer noch. Sein Kumpan Smiley hatte sich auf das Sims des einzigen scheibenlosen Fensters an der Vorderfront geschwungen. „Weg hier, Jess! Dein Alter kommt!“
Chad handelte, als würde sein Körper von einem fremden Willen gelenkt. Er federte hinter dem umgestürzten Tisch hoch und richtete den Colt auf Smiley. Mehrere Schüsse auf der Straße, die sich wie das Brechen dürrer Äste in das anschwellende Hufgedröhn mischten, kamen ihm zuvor. Wie von einer Riesenfaust wurde der schmächtige Bandit in den Raum zurückgeworfen, überschlug sich und lag still. Eine Blutlache bildete sich unter ihm.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Chad eine schattenhafte Bewegung bei der Hintertür. Jefford!, durchzuckte es ihn. Er schwang den Colt herum, zögerte jedoch, weil er nicht sicher war, ob es nicht doch einer von Bancrofts Reitern sein würde. Seine instinktive Vermutung war richtig gewesen. Da stand Jefford mit dem 38er Remington in der nervigen Rechten, ein großer, schlanker und in seinem dunkel gestreiften Tuchanzug auch jetzt noch elegant wirkender Mann. Dieses kantige glatte Gesicht mit den stechenden dunklen Augen hatte Chad schon auf hundert Steckbriefen gesehen. Über Jeffords linker Schulter baumelten pralle Ledertaschen. Chad kannte ihren Inhalt: Bancrofts vierzigtausend Dollar.
Jefford feuerte, ohne dass seine Miene etwas von seiner Wut, seinem Hass verriet. Später kam es Chad wie ein Wunder vor, dass ihn die Kugel nicht mitten in den Kopf getroffen hatte. Jefford war als Meisterschütze in ganz New Mexiko gefürchtet. Doch jetzt war seine Hand vielleicht doch nicht ganz so sicher wie sonst. Alles ging viel zu schnell, als dass Kelly auch nur einen Gedanken daran verlieren konnte. Etwas wie eine glühende Messerklinge streifte seine rechte Schläfe. Eine Pulverwolke stand vor Jeffords Remington. Zu einem zweiten Schuss ließ Chad ihm keine Zeit. Der 45er Colt bäumte sich krachend in seiner Faust.
Die Kugel hieb in Jeffords geldgefüllte Satteltaschen. Auf eine kürzere Entfernung hätte das Geschoss die dicken Notenbündel, das Leder und auch Jeffords Schulter glatt durchschlagen. Doch fast die ganze Breite der Bodega lag zwischen Chad und dem Verbrecher. So bekam Jefford nur einen wuchtigen Schlag, der ihn aus der halboffenen Tür stieß.
Mit einem Löwensprung flankte Chad über den umgekippten Tisch. Als er den Hinterausgang erreichte, sah er nur noch die lichtgetränkte Staubwolke, die von den wirbelnden Hufen von Jeffords Pferd zwischen den bröckeligen Mauern hochgerissen wurde. Ringsum tobte wilder Lärm: Schüsse, Rufe, Hufgetrappel. Von allen Seiten preschten Bancrofts Reiter auf die Bodega zu, ohne sich um vorgeschriebene Wege und Gassen zu kümmern. Morsche Zäune stürzten um, Fässer rollten durcheinander, ein Stapel geflochtener Körbe wurde wie von einer Explosion auseinandergefetzt. Hühner flogen gackernd auf, Ziegen stoben meckernd davon.
Eine jähe bleierne Müdigkeit überfiel Chad.