Sie entschied sich für Letzteres, stand vorsichtig auf und schlich aus dem Zimmer, um ihren Vater in dessen Büro aufzusuchen. Moni Wolframs schlanke Finger tanzten flink über das Keyboard des Computers. Als die Chefsekretärin Dana erblickte, unterbrach sie ihre Arbeit.
„Tag, Moni“, grüßte die Arzttochter.
„Hallo, Dana“, gab Moni Wolfram freundlich lächelnd zurück.
„Ist mein Vater da?“
„Ist er.“ Moni Wolfram nickte und wies mit dem Kopf auf die Tür, die in Dr. Härtlings Allerheiligstes führte. Sören Härtling freute sich über den Besuch seiner Tochter.
„Störe ich?“, fragte Dana.
„Nein“, antwortete der Klinikchef und forderte sie auf, sich zu setzen. „Warst du schon bei Claudia?“
„Ja.“
„Konntest du sie umstimmen?“
„Nein.“ Dana biss sich auf die Lippen.
Sören Härtling nickte ernst. „Ich habe es befürchtet.“
„Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen“, sagte Dana. „Sie schläft.“
„Es geht ihr heute nicht schlechter als gestern.“
„Konntet ihr ihren Zustand stabilisieren?“
„Für den Moment, ja.“
Dana dachte, sich freuen zu dürfen. Ihre Augen strahlten optimistisch. „O Vati ...“
Dr. Härtling hob die Hand und schüttelte langsam den Kopf.
„Niemand weiß, was morgen sein wird.“
Dana blieb eine halbe Stunde bei ihm, dann kehrte sie zu ihrer Freundin zurück. Claudia schlief noch immer. Doch kaum hatte Dana sich auf den Stuhl neben ihrem Bett niedergelassen, schlug Claudia die Augen auf.
„Dana“, kam es schleppend über die spröden Lippen der Kranken.
Dana lächelte freundlich. „Na, du. Gut geschlafen?“
„Sitzt du schon lange hier?“
„Ich war zwischendurch bei meinem Vater. Kann ich irgendetwas für dich tun?“
„Ich habe Durst.“
Dana gab ihr von dem Tee zu trinken, der auf dem Nachttisch stand. Mein Gott, dachte sie dabei. Sie ist so leicht und zerbrechlich geworden - und irgendwie durchsichtig.
Da sie nicht mit der Tür ins Haus fallen wollte, sprach sie zuerst über viele belanglose Dinge. Bloß um die Freundin zu unterhalten. Irgendwann redete sie aber dann nicht länger um den heißen Brei herum. Sie wollte Claudia nicht zu sehr ermüden, zog deshalb den Kreis der Unterhaltung gezielt immer enger und kam schließlich auf Peter Werding zu sprechen.
„Ich weiß von meinem Vater, dass du Peter verboten hast, dich weiter zu besuchen“, begann sie.
Claudia presste die Lippen zusammen und schwieg.
„Bitte verzeih mir, wenn ich das so offen sage, Claudia, aber ich finde, dass das eine falsche Entscheidung war.“ Danas Blick hielt Claudias Augen fest. „Peter liebt dich. Er hat ein Recht darauf, dich zu sehen. Die Liebe gibt ihm dieses Recht. Du darfst es ihm nicht verwehren.“
Claudia schloss die Augen. Unter ihren Lidern quollen Tränen hervor.
„Er soll sich ein Mädchen suchen, das lebt“, sagte sie unendlich unglücklich. „Ich bin tot.“
„Herrgott nochmal, Claudia ...“ Danas Freundin legte die schmale Hand über ihre Augen.
„Ich werde bald tot sein.“
„Du darfst dich nicht aufgeben“, sagte Dana eindringlich. „Du musst kämpfen.“
„Was hätte das für einen Sinn? Ich weiß, dass ich nicht gewinnen kann. Dein Vater und seine Kollegen können mir nicht helfen. Sie wollen es nicht wahrhaben, aber sie sind mit ihrem Latein am Ende.“
„Das sind sie nicht“, widersprach Dana Härtling leidenschaftlich. „Aber sie sind machtlos, wenn du sie nicht unterstützt. Wie sollen sie einem Menschen helfen, der sich absolut nicht helfen lassen will, der nichts, nicht das Mindeste, dazu beizutragen bereit ist, dass die vielen Dinge, die sie noch tun können, auf fruchtbaren Boden fallen und heilsam wirken können?“
Die Kranke nahm die Hand von ihren Augen und sah die Freundin unglücklich an.
„Kämpfe, Claudia! “, bat Dana eindringlich. „Du hast eine Chance.“ Sie nahm die Hand der Freundin. „Nutze sie! Hilf den Ärzten, dir zu helfen! Es gibt noch keinen Grund, das Handtuch zu werfen. Glaube mir, ich würde nicht so reden, wenn ich nicht wirklich davon überzeugt wäre. Ich würde dich niemals belügen. Ich würde dir niemals falsche Hoffnungen machen. Ein Feind, der - unbestritten - sehr gefährlich ist, greift dich an. Du musst dich wehren, musst dich verteidigen, brauchst diesen schweren Kampf jedoch zum Glück nicht allein auszutragen. Alle in dieser Klinik sind rund um die Uhr bereit, dir beizustehen. Und deine Großeltern. Und ich. Und Peter - wenn du es ihm erlaubst.“
31
Peter Werding riss die Augen auf.
„Wie war das?“ Er starrte Claudias Großeltern entgeistert an. „Bitte würden Sie das wiederholen?“ Sein Herz raste. Seine Stimme zitterte. Er war so aufgeregt, dass er das Gefühl hatte, unter seiner Kopfhaut würden sich Ameisen befinden.
Ludwig Brauneder schlug die Augen nieder und sagte, was er vorhin schon einmal gesagt hatte: „Claudia hat eine Schwester.“
„Wieso haben Sie sie noch nie erwähnt?“, fragte Peter Werding fassungslos.
„Sie ist ein durch und durch schlechter Mensch“, erklärte Barbara Brauneder mit belegter Stimme.
„Deshalb ist sie für uns seit langem gestorben“, fügte ihr Mann grimmig hinzu. „Männer, Drogen, kriminelle Handlungen ... Liane hat nichts ausgelassen. Wir haben uns Mühe gegeben, sie ebenso wie Claudia zu einem rechtschaffenen Menschen zu erziehen, aber es ist uns nicht gelungen. Sie hat uns belogen und bestohlen. Wir hatten immer wieder die Polizei im Haus. Ich bekam ihretwegen ernsthafte Herzprobleme. Es gab nichts als Ärger und Verdruss mit ihr. Irgendwann verschwand sie auf Nimmerwiedersehen. Wir waren alle froh darüber.“
„Auch Claudia?“, fragte Peter. Ludwig Brauneder nickte mit finsterer Miene. „Auch Claudia, denn Liane hatte sie immerzu gekränkt, gepeinigt und gedemütigt.“ Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Wir atmeten alle erleichtert auf, als sie weg war. Endlich kehrten Ruhe und Frieden in unser Leben ein, und wir sprachen in diesem Haus - als wär’s ein stummes Übereinkommen - nie wieder über dieses missratene Mädchen. Ein Alptraum war von uns gewichen. Wir wollten nicht mehr daran erinnert werden.“
„Claudia hat eine Schwester.“ Peter Werding fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das dichte brünette Haar. Er sah einen Silberstreifen am Horizont.
„Wir wissen nicht, wo sie ist“, sagte Barbara Brauneder.
„Claudia braucht ihr Knochenmark“, sagte Peter.
„Wer weiß, ob sie es verträgt“, entgegnete Ludwig Brauneder.
„Sie verträgt es mit Sicherheit besser als Ihres oder meines“, sagte Peter.
„Wer weiß, ob Liane zu einer Knochenmarkspende bereit ist“, gab Ludwig Brauneder zurück.
„Sie muss“, brauste Peter Werding auf. „Es ist ihre Pflicht, ihrer schwerkranken Schwester zu helfen. Davor darf sie sich nicht drücken.“
„Sie kennen Liane Meeles nicht.“ Es hörte sich an, als