An den Tischen der Cafés saßen die Zuhälter in teuren Maßanzügen, die so viel gekostet hatten, wie eine sechsköpfige Familie brauchte, um ein Jahr zu leben. Aber Verderbtheit und Verbrechen hatten sich allzeit besser bezahlt gemacht, als harte Arbeit. Und es gab keine Art von Laster und Begierde, die man mit Geld in Berlin nicht hätte befriedigen können. Hier war selbst die oft besungene Berliner Luft erfüllt vom Gestank moralischer Verkommenheit.
Während Katharina unter den gleichgültigen, abschätzigen oder verächtlichen Blicken der Frauen die Straße entlangging, kamen ihr unwillkürlich die Worte des ehemaligen Bürgermeisters von Berlin und Bundespräsidenten Richard von Weizäcker in den Sinn: „Zu den Zierden Deutschlands gehören seine Städte. Unter ihnen ist Berlin weder die Älteste noch die Schönste. Unerreicht aber ist ihre Lebendigkeit.“
Katharina bog in eine Seitenstraße ein, die in die Kurfürstenstraße mündete. Nach einigem Suchen fand sie die richtige Hausnummer. Das Gebäude sah heruntergekommen aus. Verputz und Farbe waren abgebröckelt, und ließen das nackte Mauerwerk sehen. Große Teile der Stuckverzierung rund um die Eingangstür waren heruntergebrochen. Das Haus bot einen idealen Unterschlupf für Ratten und Ungeziefer. Katharina stieg die schmutzige Steintreppe hinauf bis in das dritte Stockwerk. Dort läutete sie an einer Tür. Nichts rührte sich. Sie läutete noch einmal. Wieder nichts. Sie drückte gegen die Tür. Sie schwang nach innen auf. Von einem kurzen Korridor zweigten mehrere Türen ab. Hinter einer ertönte das Gemurmel von Stimmen. Katharina öffnete und trat über die Schwelle. Im nächsten Augenblick saß ihr der kalte Stahl einer Pistolenmündung im Genick.
„Keine Bewegung, oder du bist tot“, sagte eine Männerstimme. Dann fügte sie hinzu: „Bist du‘s, Katharina? Verdammt noch mal, komm nie wieder unangemeldet in einen Raum, in dem ich mich befinde. Fast hätte ich dir eine Kugel durch den Kopf gejagt. Ich habe viele Feinde in Berlin. Ich bin nur deshalb noch am Leben, weil ich schlauer bin als meine Gegner.“
Die Fensterläden waren halb geschlossen. In dem Raum herrschte graues Zwielicht. Der Druck der Pistolenmündung verschwand aus Katharinas Nacken. Herbert Paschke trat in ihr Blickfeld. Er musste hinter der Tür gestanden haben, als die Detektivin über die Schwelle trat – ein Zeichen dafür, dass er immer auf der Hut war, weil er offenbar um ihr Leben fürchtete.
„Einige Typen sind ziemlich sauer auf mich, weil ich sie angeblich an die Polizei verraten habe. Deswegen haben sie Leute auf mich angesetzt, die mir die Knochen brechen sollen.“
Herbert warf die Pistole auf den Tisch und griff nach einer Flasche Schnaps, die dort stand. Er sah Katharina fragend an, doch diese schüttelte nur den Kopf. Herbert zuckte daraufhin geringschätzig mit den Mundwinkeln, füllte ein Glas bis zum Rand und stürzte den Schnaps hinunter. Auf dem Tisch stand noch ein zweites Glas, dessen Rand dick mit Lippenstift beschmiert war. Das machte Katharina auf einmal klar, dass sie und Herbert nicht allein in dem Raum waren.
Sie wandte den Kopf und sah, dass eine junge Frau auf dem Rand des Bettes saß. Sie war eine von den hübschen Frauen, die auf der Kurfürstenstraße ihrem Gewerbe nachgingen – und sie war vollkommen nackt. Träge zog sie ihre Jeans an. Sie hatte ein klassisch schönes Profil, langes, haselnussbraunes Haar, das offen über ihre Schultern fiel, und eine sonnengebräunte Haut.
„Das ist meine neue Art zu leben“, sagte Herbert, als Katharina unwillkürlich den Blick abwandte. Er füllte sein Glas abermals mit Schnaps. „Fühlst du dich dadurch etwa beleidigt?“
„Ich bin nicht so schnell zu beleidigen“, entgegnete Katharina. „Wenn es dich glücklich macht.“
Das Glas, das eben noch in Herberts Hand gewesen war, ging an einer Wand zu Bruch. Trotz des herrschenden Zwielichts konnte die Detektivin erkennen, dass sein Gesicht bleich war.
„Ja, es macht mich glücklich.“
Katharina spürte sofort, dass mit dem kleinen Mann seit ihrer letzten Begegnung eine Veränderung vorgegangen war. Im Gegensatz zu früher benahm er sich jetzt weitaus aggressiver. Allerdings vermochte sie nicht zu sagen, ob dieses Verhalten auf den Alkoholkonsum zurückzuführen war, auf die Drogen, die er vermutlich immer noch regelmäßig nahm, oder ob es eine andere Ursache hatte. Herbert starrte sie mit zusammengepressten Lippen an. Plötzlich wandte er Katharina den Rücken zu.
„Raus!“, schnauzte er die Prostituierte an. „Los, raus mit dir! Zieh dich im Badezimmer an!“
Sie floh wie ein Schatten. Katharina und Herbert blieben allein zurück. Der Mann griff nach der Schnapsflasche, setzte sie an die Lippen und leerte sie halb in einem Zug.
„Es gab keinen Grund, die Frau so anzubrüllen“, sagte Katharina. „Sie macht auch bloß ihren Job.“
Herbert setzte die Flasche hart auf den Tisch zurück. „Was willst du überhaupt?“
„Informationen.“
„Du hättest anrufen können.“
„Habe ich getan, aber du bist nicht rangegangen.“
Herbert lehnte sich gegen den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Er war in einen schäbigen, abgetragenen Bademantel gekleidet.
„Ich hatte den Stecker rausgezogen, damit uns niemand beim fick … damit uns niemand stört.“
„Ich dachte schon, du wärst aus Berlin verschwunden.“
„Noch nicht“, sagte er. „Aber bald.“
„Und weißt du schon, wo du dich niederlassen wirst?“
„Ich habe verschiedene Orte in Erwägung gezogen. Einige kommen in die engere Auswahl. Auf jeden Fall wird es ein Ort sein, wo es das ganze Jahr über angenehm warm ist.“
„Na ja, dann wünsche ich dir viel Erfolg.“
„Danke“, erwiderte Herbert. „Verrätst du mir jetzt auch, welche Informationen du benötigst?“
„Es geht um junge Frauen, die für pornografische Aufnahmen missbraucht werden. Hast du schon mal etwas in der Richtung gehört?“
„Ich höre eine ganze Menge“, antwortete Herbert. „Ich habe zwangsläufig Umgang mit der Berliner Unterwelt. Männer, die ihren Bruder für hundert D-Mark umbringen würden, vertrauen sich mir an. Sie halten mich für einen der ihren – nun, vielleicht bin ich es auch. Deshalb erfahre ich Dinge, an die kaum ein anderer Mensch herankommt.“
„Ich weiß.“
Herbert nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. Er hatte schon sie schon zur Hälfte geleert, aber er schien immer noch nicht betrunken zu sein.
„Eins kannst du mir glauben: Wenn es hier in der Stadt wirklich Leute gibt, die etwas mit solchen Aufnahmen zu tun haben, dann wüsste ich davon.“ Seine Stimme klang jetzt nachdenklich, so, als versuchte er Dinge, die sich jedem menschlichen Begreifen entzogen, doch zu erfassen. „Alles, was verbrecherisch ist in Berlin, kommt mir früher oder später zu Ohren. Ich weiß keine Erklärung dafür. Aber es ist so.“
„Na schön, dann kannst du mir ja auch behilflich sein. Du hast doch bestimmt irgendwelche Gerüchte über diese Leute gehört, oder?“
„Berlin ist voll von Gerüchten, wie die Hölle voll Dämonen ist“, murmelte er. „Man darf nicht alles glauben, was hinter vorgehaltener Hand erzählt wird.“
„Herbert, ich brauche ein paar Auskünfte, die möglicherweise nur du mir geben kannst.“
Er schüttelte den Kopf. „Wenn man am Leben bleiben will, ist es besser, nicht an bestimmten Dingen zu rühren. Ich kann dir nicht helfen.“
„Kannst du nicht? Oder willst du nicht?“
„Ich bin raus, verstehst du?“
„Raus?“, fragte Katharina.
„Ich habe mich aus dem Geschäft zurückgezogen.“
„Weshalb?“