Kollege Heilmann war angenehm überrascht, dass Meike seinen Namen behalten hatte und warf sofort seine Maschine an. Lene ließ sie beruhigt alleine. Kollege Tom würde jetzt nach Meikes Anweisungen gespeicherte Elemente zu einem Gesicht zusammensetzen: Vollbart dicht, Vollbart schütter, Schnurrbart, Gesicht runder oder ovaler. Ohren größer oder kleiner, abstehend oder enger anliegend, der Apparat erfüllte fast alle Wünsche und dass Meike dicht an den Kollegen Tom heranrücken musste, um den Bildschirm gut zu sehen, störte ihn und sie eindeutig auch nicht. Lene grinste und verzog sich wortlos in ihr Zimmer, wo sie sich fast zwei Stunden mit Mias Protokoll beschäftigte; bis das Telefon klingelte.
„Wir sind fertig, Frau Schelm, wollen Sie mal kommen und unsere Arbeit bewundern?“
„Schon unterwegs.“
Sie hatten es tatsächlich geschafft, zwei Phantombilder herzustellen, von Malte und Sylvia. Lene betrachtete sie ausgiebig. Ein hübscher junger Mann Anfang zwanzig und eine etwas verblühte Frau Mitte vierzig.
„Großartig, Tom.“
„Danke, Chefin.“
Mit der gewünschten Geheimhaltung möglichen Täterwissens klappte es wieder nicht. Der Morgenblick, ein in Tellheim und Umgebung verbreiteter BILDzeitungsverschnitt, machte am nächsten Morgen mit der Schlagzeile auf: „Nach vierzehn Jahren wieder daheim.“
Warum gelang es DIE, der Dienststelle Interne Ermittlungen, nicht, die undichte Stelle zu finden? Gegen den Blick vorzugehen, hatte der Präsident verboten, der sich schon einmal mit Ermittlungen gegen eine Zeitung bös die Finger verbrannt hatte. Abgedruckt war im Morgenblick ein Archiv-Foto der damals fünfzehn- oder sechzehnjährigen Meike Stumm; das war schon ärgerlich, aber noch störender war, dass der Blick-Schreiber gründlich in die Archiv-Unterlagen geschaut hatte, nicht nur die Familiengeschichte der Stumms und ihre Vermögenslage detailliert schilderte, sondern auch daran erinnerte, dass bei der Geldübergabe der Vater des Mädchens ermordet worden war.
Sandig rief Lene an: „Schon den Morgenblick gelesen?“
„Nein, das tue ich mir morgens nicht an.“
„Dann möchte ich Sie hiermit dienstlich anweisen, heute eine Ausnahme zu machen.“
Lene hatte gewaltige Bauchschmerzen, als sie in die Kantine schlich und Pfefferminztee bestellte. Die Phantombilder hatte sie im Tresor des R – 11 eingeschlossen. Und Tom Heilmann hatte ihr geschworen, dass er die gestrigen Dateien in seinem Puzzle-Apparat gelöscht hatte, und die CD, die er vorher zum Speichern benutzt hatte, seitdem ununterbrochen in seinem Besitz gewesen war. „Nein, auch Meike hatte keine Ausdrucke mit nach Hause genommen.
Der Pfefferminztee begann eben zu wirken, als sie sich entschied, ihr Glück bei Tom Heilmann zu versuchen: Der Vorname Sylvia war so häufig nicht und die Pudelfrisur noch seltener.
Kollege Tom hatte die Bildersammeldatei bereits aufgerufen und gab nun vier Suchbegriffe ein: weiblich, Sylvia, Anfang vierzig, Pudellocken. Und sie landeten Treffer.
Bei dem dritten Foto, das auf dem Bildschirm erschien, sagten Lene und Heilmann unisono: „Treffer.“ Die Ähnlichkeit mit dem Phantombild war verblüffend. Sylvia Köhler, Eigentümerin des Beautysalons Mona in der Langen Straße.
„Ausdrucken, Chefin?“
Heilmann nannte alle Frauen, für die er eine Arbeit an seinen Geräten erledigen musste, „Chefin“, was manchmal sehr verwirrend war. „Ja, bitte, Tom.“ Mit den Ausdrucken suchte Lene ihren Freund Arne Wilster im Archiv des Präsidiums auf.
Dessen Hilfe Anja Stich beherrschte einen verbotenen Trick, sich in Dateien aller Referate umzuschauen, ohne dass dieser „Besuch“ automatisch protokolliert wurde. Aber Lene fragte sich nicht zum ersten Mal, warum sich das Präsidium ein teures EDV-System leistete, wenn es einen Arne Wilster im Archiv sitzen hatte: Ein Blick reichte ihm: „Unser Pudel Sylvia. Ist sie wieder im Geschäft?“
„Was für ein Geschäft?“
„Sie hat mit einem schwulen Partner ein Fotostudio betrieben!“
„Was für Fotos?“
„Nackte Frauen, die sich von nackten Männern anfassen und ablichten ließen. Oder umgekehrt. Gegen Honorar natürlich.“
„Nein, daran bin ich nicht interessiert. Hat sie mal längere Zeit mit einem festen Freund zusammengelebt?“
„Das weiß ich nicht. Das musst du die Nadel fragen!“
„Ich bin hinter dem Mann her.“
Anja Stich hatte derweil elektronisch ein ansehnliches Dossier gesammelt und ausgedruckt. Sylvia Köhler hatte es häufiger mit der Justiz zu tun gehabt: Betrug, Urkundenfälschung, uneidliche Falschaussagen, Diebstahl, Konkursverschleppung.
Lene bedankte sich und ging an ihren Schreibtisch zurück, blätterte noch einmal das von Mia so vorbildlich getippte und zu einer Akte zusammengestellte Protokoll durch und griente in sich hinein: Sie hatte sich nicht getäuscht. Keine bleibenden Rotweinschäden.
Viertes Kapitel
Anneliese Schlüter war in den vergangenen vierzehn Jahren sichtbar gealtert. Sie bewegte sich langsam an einem Rollator. Die Arbeit im Stall und mit den Pferden hatte sie aufgeben müssen, aber ihr Gedächtnis hatte nicht gelitten: „Frau Schelm. Sie kommen sicherlich wegen Meike Stumm, nicht wahr?“
„Das haben Sie also schon gehört?“
„Im Morgenblick gelesen. Da steht ja nicht viel drin, aber das Wenige ist dafür so groß gedruckt, dass sich eine alte Frau mit Brille noch informieren kann.“
„Wegen Meike Stumm bin ich hier. Ich möchte Sie bitten, sich diese beiden Phantombilder anzuschauen. Erkennen Sie die Frau oder den jungen Mann?“
Mit einer gewissen Umständlichkeit, die ihr Spaß zu machen schien, holte sie eine Brille aus der Kitteltasche, sah sich die Ausdrucke gründlich an und seufzte: „Können wir uns setzen? Das wird eine etwas längere Geschichte, Frau Schelm. Der junge Mann heißt mit Vornamen Malte und hat oder hatte einen älteren Bruder Uwe. Uwe Sobiok. Und dieser Uwe Sobiok hatte bei uns eine Stute untergestellt, Anni, ein sehr schönes Tier, um das er sich aber kaum gekümmert hat. Angeblich aus Zeitmangel. Nun steht ein Pferd nicht gern den ganzen Tag in der Box herum. Meike hat sich um Anni gekümmert, sie nach draußen geführt, auch geritten, gestriegelt, gefüttert und die kleinen Wunden und Blessuren versorgt. Sie mochten sich, Meike und Anni, und eines Tages ist dieser Uwe Sobiok mit Meike Stumm zu mir gekommen. Er war ein sehr schöner und sehr höflicher Mann: ‚Hallo, Frau Schlüter, alle auf dem Hof erzählen mir, dass sich Meike rührend um Anni kümmert. Sie darf Anni selbstverständlich so oft reiten, wie sie wünscht.‘ Und dann hat er zu Meike gesagt: ‚Und wenn du mal Sorgen oder Probleme hast, rufe mich an, ich helfe dir, so gut ich kann. Parole Anni Schlüter.‘“
„Wunderbar. Er hieß Sobiok, Uwe Sobiok?“
„Ja. Parkallee und ein Wochenendhaus am Lantener See, Röhrichtdamm.“
„Sie haben mir sehr geholfen, Herzlichen Dank, Frau Schlüter. Ach, und was ist aus Anni geworden?“
„Sobiok hat sie zum Züchten verkauft, sie ist in sehr gute Hände gekommen, fünf gesunde Fohlen, Frau Schelm, eines schöner als das andere. Sie reiten nicht?“
„Nein. Ehrlich gesagt, sind Pferde mir zu hoch und mit der Zeit würde es auch nicht gut aussehen.“
„Schade.“
Weil der Lonsesteg für Autos gesperrt war, fuhr Lene durch Steingraben in das Quellenviertel zum Präsidium im Krötengraben. Uwe Sobiok wohnte immer noch an der Parkallee 29. Malte Sobiok fand sie nicht, darum musste sich Mia morgen kümmern; Lene legte ihr einen Zettel neben das Telefon.
Auf der Treppe begegnete ihr der Kollege Tom Heilmann, der sich halb stolz, halb verlegen umschaute.
„Einen