Könnte schreien. Carola Clever. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carola Clever
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347059184
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mich.“

      Am Flughafen suchte ich den Bürgersteig nach Mary ab. Sie wollte am Ausgang der mittleren Tür bei der Ankunft stehen bleiben, auf mich warten. Sicherlich dachte sie, ich käme mit dem Airport-Bus. Jeff sah sie zuerst, zog seinen Wagen zur Bordsteinkante herüber.

      Mary war völlig irritiert, als ich aus dem Auto sprang: „Hallo Süße, habe dich nicht im Auto erwartet. Schön, dich zu sehen. Komm her, lass dich küssen, drücken. Habe dich ja so vermisst!“

      Gosh, hatte sie Kraft. „Und ich erst! Ich kann jetzt endlich die Fahne von der Stange nehmen, denn meine Staatstrauer ist vorüber.“

      Jeff war zwischenzeitlich ausgestiegen, beobachtete uns, während er den Kofferraum öffnete.

      Ich stellte ihm Mary vor. Danach verstaute er ihre Koffer im Kofferraum.

      „Mein Gott, Süße, du siehst so verändert aus“, lachte Mary.

      „Ich bin süchtig nach Endorphinen.“

      „Na, da schau her! Es sind die Endorphinchen! Ich sag’s doch, Sex ist für alles gut! Schöne Haare, schöne Nägel, schöne Haut. Es macht Spaß und entspannt zugleich.“

      Ich wechselte meine Gesichtsfarbe in Stufen zu Ketchup, senkte verlegen den Blick. Gosh, war das jetzt peinlich. Schaute Jeff an, während ich ihr antwortete.

      „Ich habe Churchills Motto über Bord geworfen. Seit ich jogge, radele und täglich Qi Gong mache, meine Ernährung auf Früchte, Gemüse, Nüsse umgestellt habe, bin ich fitter als fit.“

      Jeffs Blick sprach nicht Bände, sondern ganze Enzyklopädien, als er antwortete: „Also ich lebe mit ‚Sport ist Mord’, Mister President bleibt mein Vorbild!“

      Jeff hielt galant die Beifahrertür auf. Mary stieg ein. Ich setzte mich auf die Rückbank, quetschte mich zwischen Marys Reisetaschen. Bis wir auf Cumberland, Ecke Avenue Road, kamen, hatte Mary Jeffs Lebensgeschichte erfahren. Sie beendete abrupt ihr Verhör. Bei der Verabschiedung zog mich Jeff näher zu sich.

      „Ich hoffe, ich bekomme auch eine Chance, dich mit Endorphinen zu überschütten?“

      Verwundert schaute ich ihn an. Wie war der denn drauf? So einen Frontalangriff hatte er noch nie gewagt. Er räusperte sich, dabei hielt er sich die Hand vor dem Mund.

      „Könnte mir die Sache mit dem Sport überlegen. Mit einer so hübschen Partnerin an meiner Seite macht Joggen und alles andere bestimmt doppelt Spaß!“

      Ich nahm ein kurzes Cremebad in seinen Schmeicheleien. „Och! Wusste gar nicht, dass du auch joggst. Wenn du möchtest, können wir heute Abend joggen. Ich melde mich.“

      Vor Verblüffung konnte er nicht sprechen, dafür aber so strahlen, dass Robert Röntgen sich überlegt hätte, ob er die Strahlen bündeln sollte. Mary zog mich ungeduldig am Arm. Wir verabschiedeten uns, liefen in Richtung Shopping-Paradies. Bloor Street hieß die angesagte Shopping-Meile.

      „Also Vali, wenn der dich zu fassen kriegt, frisst er dich mit Haut und Haaren! Verschenk dich nicht zu früh, denn ich habe noch Einiges für dich in petto!“

      „Mary!“, herrschte ich sie lachend an. „Du bist unmöglich.“

      „So? Meinst du? Da hast du recht. Seit ich die Prüfung des Lebens, meinen Primärkonflikt, überstanden habe, sehe ich das Leben mit anderen Augen. Warte, bis ich dir von meiner G-Punkt-Massage, meinem Irokesen-Haarschnitt am Bär berichte!“

      „Waaas? Du hast eine Frisur an den Scharmhaaren machen lassen? Ich fall tot um“, mimte ich einen Schwächeanfall.

      „Das ist nicht alles.“

      „Waaas, es gibt Steigerungen?“, quiekte ich wie ein Schwein.

      „Und ob! Der Irokese ist nicht nur aufgestellt, sondern auch rot gefärbt!“

      Ihre Augen musterten mich in freudiger Erwartung. Ich kriegte den Mund nicht zu. „Wow … ich schmeiß mich hintern Zug!“ Ich ließ die angehaltene Luft ausströmen. Nach kurzer Erholung bemerkte ich lakonisch: „Und ich dachte, du hättest ordnungsgemäß deine Töchter im Internat besucht.“

      „Valilein! Ich bin zwar Mutter und Ehefrau, aber deshalb nicht tot. Stevie verhält sich vielleicht wie ein testosterongesteuertes Warzenschwein auf Brautschau, aber ich verfolge einen anderen Weg. Jedem das Seine! Er wird sich noch wundern.“

      „Ist das eine Drohung oder ein Versprechen?“, erkundigte ich mich lachend.

      „Unser Nachbar, der intelligente Dummschwätzer, glaubt auch noch mit weit über achtzig, dass er den wildgewordenen Sexteufel mit seinen gekauften Grazien spielen muss. Dabei meinte er zu Stevie, als er ihn fragte, wie er in seinem Alter den Sex noch praktiziere: Junge, das ist, als wenn ich mit einem Seil versuche, Billard zu spielen! Seitdem spiele ich Taschenbillard, schwenke ihn von links nach rechts in meiner Hose, um Bewegung reinzubringen. Haha, kleiner Scherz, Stevie. Mann, es gibt pillenförmige Krückstöcke. Die können auch im Alter noch Wunder bewirken! Gib niemals auf!’“

      Ich hielt die Luft an, konnte mir nicht vorstellen, dass man im Alter noch Sex haben wollte.

      „Wirklich nett von Jeff, meine Koffer und Taschen zu Hause abzuliefern4, bemerkte Mary.

      „Ja, er ist ein echter Gentlemen!“, säuselte ich.

      Am Eingang zur Boutique von Creeds hielt ich ihr die Tür auf. Im Vorbeigehen hauchte ich ihr flüchtig einen Kuss auf die Wange.

      „Vali, ich weiß, dass es dir unangenehm war. Aber das Verhör war wichtig, weil ich ihm auf den Zahn fühlen wollte: wo er herkommt und was er vorhat. Meinen zwanzigjährigen Altersvorsprung muss ich doch nutzen, um dich zu schützen, Süße!“

      „Das liebe ich ja so an dir. Aber das war kein Verhör, sondern eine Mata-Hari-Nummer!“

      „Mata-Hari-Nummer? Wer ist das? Kenn ich die auch?“

      „Keine Ahnung. Opa Eugen hat mir von Mata erzählt. Ein selbstgewählter Künstlername, den sie benutzte, als sie sich entschloss, erfolgreich im Ersten Weltkrieg die französische Generalität auszuspionieren. Sie setzte ihren glasklaren Verstand und ihre sexuellen Reize ein, um an wichtige Informationen zu kommen. Haha … hier sind sie wieder, die Tauschgeschäfte, der Kuhhandel, der hier heißt: Tausche Sex gegen Informationen.“

      Mary lachte. „Das hat sie ja gut erkannt. Halte den Männern eine gutaussehende, hübsch verpackte Muschi hin und die hoch dekorierten Jungs pfeifen auf ihre Orden und Abzeichen, unterwerfen sich lieber dem ewig lockenden Weib. Jetzt mal ernsthaft, lass uns über Jeff sprechen!“

      Ich sagte nichts.

      „War ich so schlimm? Hab ich ihn jetzt für immer vergrault? Also, wenn das so ist, muss ich zukünftig die Mata-Nummer fallen lassen. Sorry, Süße. Mea culpa!“

      „Du musst dich nicht entschuldigen. Er wird es überleben.“

      Während wir sprachen, lief Mary von einem Kleiderständer zum anderen, selektierte in Windeseile einige Blusen und Hosen. Wir liebten die Kostümierung, als wenn die Teile auf der Stange sie ansprangen. Ihr Geschmack war erlesen. Ich bewunderte sie, kopierte sie, wo ich konnte.

      „Süße, das hier ist kein Laden zum Wühlen. Hier selektiert man oder lässt selektieren.“

      Vor der Ecke mit den neu eingetroffenen Kleidern streckte ich meine Hand aus und übergab Mary einen Umschlag.

      „Was ist das?“

      „Die Finanzierung deines Kaufrausches. Meine Rückzahlung. Danke, dass du so geduldig warst.“

      „Habe ich gern getan. Danke.“

      Mary hatte drei Kleider, drei Pullover und einen Mantel überm Arm, drückte mit dem Ellbogen die Tür der Umkleidekabine auf. Mary war schneller als jeder Wimpernschlag ausgezogen. Ich saß auf einem Hocker und betrachtete ihre Auswahl.

      „Ja hallo! Du hast ja ein Tattoo!“, stellte ich fasziniert fest.