Wir wurden ruckartig nach oben gezogen und Bern rückte in immer weitere Ferne. Ein Fuchs kreuzte unseren Weg, den die anderen Passagiere nicht bemerkten. Ich sah ihm nach, wie er elegant in den Wald verschwand, wobei es mir so vorkam, als würde er sich einmal kurz umschauen und mich anblicken. Ich beneidete ihn um seine Schönheit und Freiheit. Wir kamen an einer Kuhweide vorbei, auf der schmutzige weiße Kühe grasten, die übertrieben riesige spitze Hörner hatten, mit denen sie mit Sicherheit in keinen Stall kamen. Die armen Tiere mussten ja hier draußen schon bei jeder Kopfbewegung aufpassen, dass sie einander nicht verletzten oder sich aus Versehen im Zaun verhedderten.
Die Seilbahn kam zum Stehen, und die Türen öffneten sich zischend wie bei einem Raumschiff. Und tatsächlich hatte ich das Gefühl, auf einem anderen Planeten gelandet zu sein. Unfassbar viel Weite und Himmel umgaben mich. Es war spürbar kühler als unten in der Stadt. Eine Minieisenbahn für Kinder fuhr einsam ihre Runde. Der Blick auf den unter mir liegenden Wald wurde durch gusseiserne Plastiken, die an einen löchrigen Käse erinnerten, versperrt. Ich ging ein Stück den Hang hoch dem Himmel entgegen zu Parkbänken, von wo sich mir plötzlich ein Ausblick auf eine Gebirgskette eröffnete, deren schneebedeckten Gipfel Wolken wie Nasenringe trugen. Voller Andacht setzte ich mich auf eine Parkbank und bestaunte das Naturschauspiel und spürte in mir eine wohlige Stille. Ich hätte noch stundenlang dasitzen können, wenn mir nicht irgendwann kalt geworden und eingefallen wäre, dass Samstag war und ich noch wichtige Besorgungen zu erledigen hatte. Auf dem Weg zurück zur Gurtenbahn hielt ich einen Mountainbiker an und fragte ihn, ob er wisse, wie lange die Geschäfte heute geöffnet seien und wo ich eine Matratze herbekäme. Er schaute unter seinem windschnittigen Helm hervor auf seine Armbanduhr und sagte: „Muss ich Schriftdeutsch mit Ihnen reden?“
„Schriftdeutsch? Sie können es mir auch einfach sagen“
„Jetzt haben nur noch der Coop und der Migros im Bahnhof offen, und die verkaufen nur Lebensmittel und Haushaltswaren.“
Ich ging durchs Haus und klingelte bei meinen Nachbarn, um mich vorzustellen und zu fragen, wer mir eine Luftmatratze oder Ähnliches leihen könnte. Aber niemand schien zuhause zu sein. Ich stellte mich schon auf eine weitere harte Nacht auf dem Boden ein, als hinter mir in der Wohnung im Erdgeschoss die Wohnungstür aufging und mich eine Frau mit kurzen Haaren grüßte. Aus ihrer Wohnung kam ein intensiver Marihuanageruch. Wir stellten einander vor. Ein kleiner stämmiger südländischer Typ erschien hinter ihr in der Tür, reichte mir die Hand und bat mich in ihre Wohnung, die völlig mit Möbeln zugestellt war. Ganz offensichtlich waren sie Eishockeyfans, denn die Wände waren mit SC Bern-Flaggen, sich kreuzenden Eishockeyschlägern, Trikots und Wimpeln behangen. Ich tat, als würde mir der Grasgeruch nicht auffallen und schilderte ihnen kurz meine Lage. Leider besaßen sie weder eine Isomatte noch eine Luftmatratze, sondern nur ein Schlauchboot. Sie lachten und schauten sich verliebt an. Das könnte ich natürlich haben. Er ging mit mir in den Keller, gab mir das Schlauchboot und trug die Pumpe, sagte, spätestens im Sommer bräuchten sie beides wieder zurück, weil er und seine Freundin es liebten, sich in dem Boot auf der Aare treiben zu lassen. Er half mir, es aufzupumpen. Das Ding war zwar groß, doch mit ausgestreckten Beinen konnte ich nicht darin liegen, also drehten wir es um. Seine Freundin brachte mir sogar eine Wolldecke und ein Sofakissen.
Den Sonntag nutzte ich dazu, dem Flussverlauf der grün leuchtenden Aare zu folgen und mir die Altstadt – samt Bundeshaus, kilometerlanger Laubengänge, Kirchen und Brücken – anzuschauen, die wie aus einem Guss aus olivgrünem Sandstein gebaut war und irgendwie düster und militärisch wie am Reißbrett entworfen wirkte.
***
Nach zwei durchwachsenen Nächten auf dem Schlauchboot war ich froh, als endlich Montag war. Ich kaufte mir für wenig Geld in einem Gebrauchtladen eine Matratze, Stuhl, Tisch, etwas Geschirr, Espressomaschine. Ich fand sogar ein paar Klamotten, die mir gut gefielen. Der Verkäufer sicherte mir zu, diese Sachen am frühen Abend für dreißig Euro von einem Kollegen zu mir nach Hause liefern zu lassen.
Gegenüber von einem Puppengeschäft rief ich von einer Telefonsäule aus bei der Autowerkstatt an. Ich erklärte einem Herrn Schröder, während ich mir beiläufig die Puppen besah, mein Problem, nannte das Autokennzeichen und wollte wissen, wann ich denn meine Sachen abholen lassen könne, als mir plötzlich ein längst vergessenes Puppengesicht ins Auge fiel. Es war Nelly, die Puppe, die auf jede meiner kindlichen Fragen eine Antwort gewusst hatte; die, die die Augen geschlossen, sobald ich sie neben mich hingelegt hatte. Und die, der eines Tages der Kopf abgefallen war, worüber ich bitterlich geweint hatte.
Er meinte kurz angebunden, er sei da gerade nicht im Bilde, sie haben zurzeit viel zu tun, ich solle doch bitte morgen noch einmal anrufen.
„Bitte was? Kann ich bitte mal mit dem Chef sprechen?“
„Das tun Sie bereits.“
„Hören Sie, so läuft das nicht.“
„Moment, ich nehme Sie mal mit nach draußen … Ich sehe gerade, der Sprinter mit dem genannten Kennzeichen steht hier auf unserem Gelände. Soweit ich informiert bin, hat der Wagen einen Motorschaden beziehungsweise Totalschaden und soll demnächst verschrottet werden. Sie können Ihre Sachen im Prinzip jeder Zeit abholen lassen.“
„Danke, ich werde dann noch mal genauer Bescheid geben. Tschüss.“
Ich steckte weitere Münzen in den Apparat und wählte Alex’ Telefonnummer.
„Hallo.“
„Helle hier.“
„Helle? … Ach, ich erinnere mich.“
„Ha, ha, du Komiker“, sagte ich.
Er lachte beherzt. „Wie geht’s dir?“
„Soweit so gut.“
„Wann fängt die Arbeit an?“
„Zum Glück erst nächste Woche … Hast du ein Umzugsunternehmen gefunden?“
„Ja, klar. Donnerstag um zehn Uhr holen die deine Sachen bei der Werkstatt ab. Am frühen Abend sind sie dann bei dir. Ich schätze zwischen fünf und sechs Uhr.“
Ich atmete erleichtert durch.
„Ist das deine neue Nummer?“
„Nein. Warte mal, ich muss Geld nachwerfen.“
Die Verbindung war weg, ich hatte kein Kleingeld mehr. Auch egal. Ich kam auf der Suche nach einer Bank am Bundesplatz vorbei, wo junge Leute, die Anzüge und Krawatten trugen, auf mich zukamen. Einer bat mich, von ihnen mit dem Bundeshaus im Hintergrund ein Foto zu machen und reichte mir eine kleine Digitalkamera. Ich knipste sie, gab dem Mann seine Kamera zurück und fragte ihn, ob er wisse, wo die nächste Bank sei. Er lachte, öffnete prophetisch die Arme, sah sich um, meinte, wo man hinschaue, ich könne mir eine aussuchen. Jetzt sah ich es auch, der Bundesplatz war abgesehen vom Bundeshaus geradezu von Banken umstellt.
Ich betrat das Gebäude der Post Finance und richtete bei einer Frau, die wie Nelly mit den Augen klimperte, ein Konto ein. Zudem bestellte ich einen Telefon- und Internetanschluss und kaufte das billigste Festnetztelefon. Zur Belohnung bot die eloquente Verkäuferin mir 20 Prozent Ermäßigung auf einen Mini-Laptop an, den ich ebenfalls nahm.
„Wollen Sie auch ein paar Rubbellose? Wenn Sie neun kaufen, bekommen Sie eines gratis“, sagte sie.
Ich nickte und machte mich gleich ans Rubbeln.
Die letzten drei ließ ich von ihr aufrubbeln – es brachte nichts. Sie empfahl mir ein besonders handliches Handy, erklärte einen Haufen Vorzüge.
„Das klingt verlockend. Ich nehme es, wenn Sie mit mir essen gehen“, sagte ich, obwohl die Frau mir unlebendig und steif vorkam. Aber manchmal muss man halt probieren, was beim anderen Geschlecht geht, sonst rostet man ein.
Sie klimperte weiter mit den Augen. „Ich bin nur die Post.“
„Ach so, das habe ich mir schon gedacht. Wegen dem Horn auf der Brust und so.“
Sie