Esoterisch gesehen symbolisiert das Einhorn unser höheres Selbst, die Monade, denn auch dieses Geistselbst entstammt dem „Paradies“, der göttlichen Lichtwelt. Nur aus Mitleid hat es sich zum Herabstieg in die niedere Materiewelt entschlossen. Dies war ein echtes Opfer, eine Tat der Selbstaufopferung, und daher wurde schon im Mittelalter das Einhorn mit Christus gleichgesetzt. Auch Christus ging freiwillig in die Materie hinein. Das Einhorn steht esoterisch als ein Symbol für den inneren göttlichen Funken, für den Wesensanteil des Menschen, der sich trotz irdischer Verkörperung himmlisch, überirdisch, spirituell rein erhalten hat und sich nicht durch Materielles korrumpieren lässt. Der Innere Funke, die Monade, das höhere Selbst – wie immer wir es nennen wollen – folgt dem Menschen stets als unsichtbarer Lebensbegleiter auf dem Weg durch die irdische Materie, geradeso wie in der Legende das Einhorn einst das Paradies verließ, um Adam und Eva zu folgen.
In Peter S. Beagles Märchenroman steht der Satz: „Einhörner sind unsterblich“15. In seiner Unschuld weiß das Einhorn nichts von der Tragik des Sterbenmüssens, von Schuld und Verstrickung; es erfreut sich des ewigen Lebens und einer paradiesischen Zeitlosigkeit, wie sie dem ursprünglichen Schöpfungsplan entspricht. Obgleich es Adam und Eva in die Welt folgte, blieb das Einhorn immer ein Paradieswesen; mit ihm kam ein Stück Himmel auf die Erde herab, und so kündet es wie ein Lichtbote von einer höheren Welt. Daher auch die sprichwörtliche Scheue des Einhorns: es hat sich den Gesetzen dieser Welt nie angepasst, und es entzieht sich dem Zugriff des Irdischen, Welthaften, Materiellen, weil es einer anderen Welt entstammt. Nur mit den „Augen des Geistes“ kann das Einhorn geschaut werden; es ist Gegenstand einer Vision, aber kein wissenschaftliches Studienobjekt. Scheu und zurückgezogen lebt es in seinem hortus conclusus, dem „geschlossenen Garten“, einem Zaubergarten, in dem nicht mehr die Gesetze der Welt, sondern spirituelle Gesetze gelten. Kein Zweifel, dieser mystische Einhorngarten befindet sich nicht in der äußeren Raumzeitwelt, sondern im Innersten unserer Seele.
Wenn man in Indien Buddha, im Westen Christus mit dem Einhorn gleichgesetzt hat, so kann es ja nur ein Symbol des höheren Selbst – der Monade – sein. Auch die Monade, ihrem Wesen nach scheu und zurückgezogen, entzieht sich jeder Kategorisierung, Einordnung, Vereinnahmung. Anstatt sich dem eisenharten Zugriff dieser Welt zu beugen, will sie lieber – wie das Einhorn – frei, wild und ungezähmt bleiben, will im Umherschweifen ihre Souveränität erfahren. Niemand wird das Einhorn einfangen, zähmen, bändigen können, niemand ihm Fesseln anlegen, denn der Geist bleibt frei und lässt sich nicht von der Materie an die Kette legen. So bedeutet das Einhorn im Grunde etwas rein Geistiges. Es ist der stets frei umherschweifende Geistesfunke, der seine Göttlichkeit in sich trägt und seines Ursprunges in der höheren geistigen Welt immer eingedenk bleibt. Im Einhorn als Sinnbild verkörpert sich das Höchste, Reinste, Spirituellste, das sich denken lässt, der Innere Funke Gottes.
Die spirituelle Natur des Einhorns zeigt sich auch in seiner Androgynität und in seinem Bezug zur Jungfräulichkeit. Das Androgyne kommt beim Einhorn schon im äußerlichen Anblick zum Ausdruck: die üppige, wallende Haarmähne und die runden weichen Formen bekräftigen das Weibliche, das spitze Horn und die ungestüme Kraft eher das Männliche. So zeigen sich Männliches und Weibliches vollkommen integriert, ohne dass das eine sich auf Kosten des anderen verwirklicht. Androgynen Charakter besitzt aber auch das höhere göttliche Selbst. Und wir wissen aus den Traditionen der Esoterik, dass die ursprüngliche Menschheit, als sie noch auf den höheren geistigen Ebenen weilte, zweigeschlechtlich war. Erst im Laufe einer späteren Evolutionsperiode, im Zuge stärkerer physischer Verstofflichung, trat die Geschlechtertrennung ein. Und in einem künftigen vergeistigten Zustand wird die Menschheit ihre ursprüngliche Androgynität wiederhergestellt haben.
Eine christliche Legende erzählt, wie das Einhorn, das von niemandem gefangen genommen werden kann, zutraulich seinen Kopf in den Schoß einer keuschen Jungfrau legt. In einer aus Syrien stammenden Version der Geschichte, die mehr das Erotische daran betont, lesen wir: „Es gibt ein Tier mit dem Namen 'dajja'. Das ist so sanft wie es auch stark ist, und kein Jäger vermag es zu fangen. Mitten auf der Stirn trägt es ein einzelnes Horn. Nur mit List kann man seiner habhaft werden. Dorthin, wo es des öfteren gesehen wird, führt man eine reine und keusche Jungfrau. Sobald das Tier diese bemerkt, kommt es näher und wirft sich in ihren Schoß. Die Jungfrau bietet dem Einhorn ihre Brüste dar. Das Tier beginnt zu saugen, wird vertraut mit ihr und immer zutraulicher. Sobald das Mädchen das Horn auf der Stirn berührt, lähmt es jeden Widerstand des Einhorns. Die Jäger können es jetzt ergreifen und zum König bringen. So wie das Einhorn brachte auch Christus sich zum Opfer dar und pflanzte das Horn der Erlösung für uns, vermittelt durch die Gottesmutter, die unbefleckte und reine Jungfrau Maria.“16
So steht das Einhorn auch in Bezug zur Großen Muttergöttin, die einen Archetyp spiritueller Weiblichkeit bildet und in der Jungfrau Maria nur eine ihrer zahlreichen Ausdrucksformen findet. Im Mittelalter galt die mystische Einhornjagd als ein Symbol für spirituelle Suche, ähnlich der Suche nach dem Heiligen Gral oder dem alchemistischen Stein der Weisen. Bei so vieler und tiefgründiger Symbolik steht die Frage, ob es denn Einhörner jemals „wirklich“ gegeben habe, als unbedeutend im Hintergrund. Bei einem esoterischen Symbol zählt nie die historische Realität. Zwar gibt es seit der späten Antike immer wieder Berichte von Augenzeugen, die Einhörner „gesehen“ haben wollen, etwa der von dem Griechen Megasthenes, der im 3. Jh. v. Chr. im Auftrag von Seleukos nach Indien – dem klassischen Land aller Wunder und Fabeln – gereist sein soll, wo er das meist mit „Einhorn“ übersetzte Tier Kartazoon gesehen haben will. Schon 100 Jahre vor ihm hatte sein Landsmann Ktesias Ähnliches berichtet, und Cäsar lässt in seinem „Gallischen Krieg“ ein dem Einhorn täuschend ähnliches Wesen in den Tiefen des Hercynisches Waldes umher springen.
Aber wir brauchen die Frage nach der historischen Realität des Einhorns nicht zu entscheiden. Wir halten es mit dem Dichter Rainer Maria Rilke eher für das „Tier, das es nicht giebt“, nicht gibt im objektiv-wissenschaftlichen Sinne, wohl aber als innere seelische und spirituelle Wirklichkeit; und es gibt kaum ein esoterisches Symbol, das machtvoller gewesen wäre und tiefere Spuren in der Kulturgeschichte des Morgen- und Abendlandes hinterlassen hätte, als das des Einhorns. Deshalb möge hier aus Rilkes SONETTE AN ORPHEUS (1922) jenes eine zitiert werden, das die Symbolgestalt des Fabeltiers in aller Pracht erstehen lässt – die Liebeserklärung eines spirituell Suchenden an Einhörner:
O dieses ist das Tier, das es nicht giebt,
Sie wusstens nicht und haben jeden Falls
– sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals
bis in des stillen Blickes Licht – geliebt.
Zwar war es nicht. Doch weil sie's liebten, ward
ein reines Tier. Sie ließen immer Raum.
Und in dem Raume, klar und ausgespart,
erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaum
zu sein. Sie nährten es mit keinem Korn,
nur immer mit der Möglichkeit, es sei.
Und die gab solche Stärke an das Tier,
dass es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn.
Zu einer Jungfrau kam es weiß herbei –
und war im Silber-Spiegel und in ihr.17
Der Drache
In