Märchen entstammen immer einer alten Zeit („Es war einmal“), und sie scheinen – wie gesagt – einer sehr urtümlichen Schicht des menschlichen Bewusstseins zu entspringen. Und vielleicht liegt gerade darin ihre Zeitlosigkeit? Das Märchen zeigt Archetypisches auf, das in seiner Überzeitlichkeit ewig aktuell bleibt und auch uns Heutige anzusprechen vermag. Ein Märchen kann noch so alt, aber niemals veraltet sein, denn seine Zauberwelt bleibt immer gegenwärtig. So erweist es sich als Träger einer überzeitlichen, esoterischen Botschaft. Nach Britta Verhagen stammen die Märchen „aus einer neolithischen Mysterienreligion. Der Mittelpunkt jeder Mysterienreligion ist ein Kult, der den Mysten durch eine Reihe von Einweihungen und 'Stufen', durch feierliches und geheimnisvolles Erleben in jene Tiefe zu führen sucht, wo die wahre 'Religio' wirksam wird und die unmittelbare Berührung zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Mensch und Gott als erschütternde Realität erlebt wird.“5
Der Weg des Märchenhelden ist immer ein Einweihungsweg. Mag das Einweihungsgut nun der Megalithkultur entspringen, mag es seine Wurzeln im Indogermanischen, im Kelten- und Germanentum oder im Schamanismus haben, es bleibt einerlei. Es besteht auch eine seltsame Verbindung zwischen der mythischen Märchenwelt und der Gnosis, einer orientalischen Mysterienreligion der späten Antike, die auf ältere geschichtliche Wurzeln zurückgehen mag. Man könnte sie vielleicht auf eine „Ur-Gnosis“ zurückführen, die noch nicht dualistisch, sondern rein kosmisch ausgerichtet war und mit der europäischen Megalithkultur auf rätselhafte Weise in Verbindung stand. Gnostische Motive gibt es in Märchen genug: der Kampf von Gut gegen Böse, von Licht und Finsternis, das Motiv der Selbsterkenntnis und der Erlösung.
Als weiteres Urmotiv kommt das Suchen und Finden, das Begehen des Weges, das Unterwegs-Sein hinzu. Dem Aufbruch aus der gewohnten Umgebung folgt ein gefahrvoller Weg mit vielen Prüfungen und Fährnissen, bis sich am Ende alles wieder zum Guten fügt. Das Auf-dem-Weg-sein gehört aber auch zu den Grundtatbeständen der Esoterik. Deshalb besteht eine Wahlverwandtschaft zwischen Märchen und Esoterik; denn in beiden geht es um den Weg, der durch das Beschreiten erst entsteht und immer schon das Ziel ist. Weg und Ziel sind im Grunde eins; und sie liegen in uns selbst. Christa M. Siegert schreibt hierzu in ihrem sehr lesenswerten Buch GEHEIME BOTSCHAFT IM MÄRCHEN: „Die Märchen sollten in den Herzen den geheimnisvollen, inneren Schöpfungsauftrag wach halten und den Befreiungsweg der Seele in schlichten Bildern widerspiegeln. Mit ihren Symbolen sollten sie die Sehnsucht der Seele nach dem Reich des Geistes beleben und sie zur Heimkehr ermutigen. Viele alte Märchen haben ein tiefes Mysterienwissen in ihren Bilderteppich wie leuchtende Perlen hineingewebt.“6
In dem vorliegenden Buch möchte ich nun versuchen, die geheime esoterische Botschaft der Märchen aufzuzeigen – weniger in den bekannten Volksmärchen, sondern eher in den großen Kunstmärchen des 20. Jahrhunderts, auch in der Fantasy-Literatur von J. R. R. Tolkien bis Michael Ende. Ich möchte den Leser einladen, mir auf verschlungenen Pfaden durch den labyrinthischen Irrgarten mythischer Märchenwelten zu folgen, eine Entdeckungsreise durch Raum und Zeit, durch Zauberwelten und Parallel-Universen, voller Gefahren und Überraschungen. Auf diesem Weg durchs Labyrinth wird sich die Esoterik, das esoterische Urwissen, als Ariadnefaden erweisen. Aber was ist denn eigentlich „Esoterik“?
Esoterik – der Weg nach Innen
Zahlreichen Märchen, Mythen, Heldenlegenden, Heiligengeschichten, Sagen sowie vielen Stoffen der Weltliteratur liegt eine Esoterik zugrunde, die meist unerkannt unter der Oberfläche schlummert; denn sie wird sozusagen „zwischen den Zeilen“ zum Ausdruck gebracht. Die Esoterik ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie hat keinen Stifter oder Begründer; als zeitloses Geisteswissen wurde sie von den Weisen und Sehern der Urzeit geschaut, und seitdem überdauert sie alle Zeitalter als die Geheimlehre aller Religionen.
Was ist „Esoterik“? Als Esoteriker wurden früher die Träger eines geheimen Priester- oder Einweihungswissens bezeichnet; in der Mysterienschule des Pythagoras bezeichnete man die zum „Inneren Kreis“ Gehörigen als „Esoteriker“. Im Griechischen heißt esoterika wörtlich „die inneren Dinge“; dies entspricht auch dem berühmten Satz des Novalis „Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg“. Er steht in seiner Fragmenten-Sammlung BLÜTENSTAUB, die in der von Friedrich Schlegel herausgegebenen Zeitschrift Athenäum veröffentlicht wurde. Dort heißt es: „Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und die Zukunft. Die Außenwelt ist nur die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich.“7
Der „Weg nach Innen“ wird also in der Esoterik beschritten. Dies bedeutet jedoch nicht Abkapselung von der Welt; denn Innen und Außen sind im Grunde genommen eins. Ein anderes Fragment von Novalis verdeutlicht diesen Gedanken: „Platos Ideen: Bewohner der Denkkraft, des innern Himmels. Jede Hineinsteigung, Blick ins Innre, ist zugleich Aufsteigung, Himmelfahrt, Blick nach dem wahrhaft Äußern.“8 Dem Satz „Wie Innen, so Außen“ muss der hermetische Satz „Wie Oben, so unten“ hinzugefügt werden; so erst ergibt sich das Koordinatensystem des esoterischen Weltbildes. Das esoterische Weltbild gibt Auskunft über Struktur und Aufbau des Universums, über Herkunft, Weg und Ziel des Menschen sowie über die Zusammensetzung des Menschen aus Körper, Geist und Seele.
Was die Esoterik – oder Hermetik – über den Menschen lehrt, kann sich als wertvolle Deutungshilfe bei der Betrachtung von Mythen und Märchen erweisen. Der Mensch, so behauptet die Esoterik, ist im Besitz eines unsterblichen Geistes und daher wahrhaft ein König; nur weiß er nicht, dass er ein König ist, da ihm die Selbsterkenntnis fehlt. Ihm fehlt das Bewusstsein seines Ursprunges und seiner wahren Menschennatur; im Besitz dieses Wissens wird der Mensch zu seiner wahren Königswürde erwachen und danach trachten, in seine geistige Urheimat wieder zurückzukehren. Demnach besteht der Seelenweg des Menschen in der Sicht der Esoterik nur aus zwei Abschnitten: Involution und Evolution – Abstieg in die materielle Welt und Aufstieg zum Geist. Dieser Aufstieg zum Geist ist ein evolutionärer Welten-Wanderungs-Weg, durch viele Seinszustände und Verkörperungen hindurch, wobei jede Existenz auf diesem Weg eine unschätzbar wertvolle Lernerfahrung darstellt.
Der Sinn des esoterischen Weges ist also Heimkehr, Rückkehr zum Ursprung. Sehr schön hat dies Christa Siegert in ihrem Buch GEHEIME BOTSCHAFT IM MÄRCHEN ausgedrückt: „Die Menschenseele lebte einst im Königreich des Geistes. Sie sank hinab aus der geistigen Dimension in die zeiträumliche Dimension der Materie. Sie verirrt sich in der Sinnenwelt mit ihren ständig wechselnden Gegenkräften und Erscheinungen, wird von den Mächten der Täuschung festgehalten und in die Irre geführt und lernt unter häufigem Wiedervergessen ihre harten Lektionen. Am Tiefpunkt ihres Abstiegs wird die Menschenseele vom Licht der göttlichen Botschaft getroffen, vom Auftrag, wieder heimzukehren ins Königreich des Geistes. Und dann macht sich die Seele auf den Heimweg, quer durch alle Anschläge und Heimsuchungen der dunklen Kräfte, beschirmt von den lichten Kräften, durch vielfache Läuterung und Prüfung, bis das Ziel der Seelenreise, die Wiederverbindung mit dem Geist, die 'königliche Hochzeit' verwirklicht ist.“9 Die Esoterik liegt als Geheimlehre und Geheimtradition spirituellen Wissens allen Religionen zugrunde, und die Mysterienschulungen früherer Zeitalter dienten dem Ziel, dem Menschen zur Selbsterkenntnis zu verhelfen und ihn für seinen Weg zurück zu seinem Ursprung auszurüsten. Dieser Weg ist ein „Weg nach Innen“; denn nirgendwo sonst als in uns wohnt jener ewige Geistfunke, der uns mit dem „Königreich des Geistes“ verbindet.
Das gnostische Perlenlied
In poetischer Form finden wir das esoterische Urwissen ausgedrückt in dem so genannten GNOSTISCHEN PERLENLIED, einer Dichtung aus der ausgehenden Antike