Für den Moment jedoch war ich gezwungenermaßen per pedes unterwegs und es dauerte rund zwei Kilometer, bis schließlich ein Linienbus vorbeirumpelte und ca. fünfzig Meter vor mir an einer Haltestelle hielt. Ich bin eigentlich zu alt, um hinter einem öffentlichen Verkehrsmittel herzulaufen und meine Bewegungen entbehren bei dieser Aktivität inzwischen jeder Grazie und Anmut. In der aktuellen Situation war die
Maßnahme jedoch alternativlos und ersparte mir weitere drei Kilometer Fußmarsch.
Um Punkt sieben Uhr stand ich an einem der drei Busbahnhöfe Asmaras an der Haltestelle nach Massawa, um halb neun konnte ich schließlich in einen Bus klettern, der in diese Richtung aufbrach. Dem vorausgegangen war eine Vorkontrolle der Wartenden, bei der jeder zugelassene Passagier mit einem Filzstift auf der Hand markiert und damit zum Besteigen des Busses ausgewählt wurde. Was beim Lesen jetzt wahrscheinlich ein wenig seltsam klingt, hat in der Realität den praktischen und begrüßenswerten Effekt, dass immer nur so viele Fahrgäste einsteigen, wie der Bus Sitzplätze hat. Niemand steht im Gang oder sitzt auf dem Fußboden. Wenn alle Plätze besetzt sind, ist der Bus ausgebucht und fährt los. Diese vernünftig anmutende Regelung gilt – wie sich am Abend auf der Rückfahrt herausstellen sollte - nicht für Minibusse, die die Strecke ebenfalls befahren. In diese Gefährte werden Menschen hineingestopft, bis allen der Erstickungstod droht. Und da auf dem Dach weitere Ladeflächen existieren, stapelt man dort noch allerhand Waren in Kisten und Säcken, die gegen Entgelt auf die Fahrt mitgenommen werden.
Angeblich brauchen diese Kleinbusse deutlich weniger Zeit für die Strecke als die großen Linienbusse. Nach der gestrigen Versuchsanordnung kann ich verifiziert sagen, dass dies nicht der Fall ist. Im Gegenteil. Wahrscheinlich weil vom Dach herunter immer wieder etwas aus- und abgeliefert werden muss und zudem permanent Passagiere auf der Strecke ein- und aussteigen, dauert die Fahrt alles in allem eine halbe Stunde länger.
Insgesamt war ich bei diesem Tagesausflug mit einem vierstündigen Aufenthalt in der Stadt selbst, hin und zurück also sieben bis acht Stunden im Bus mit einem Höhenunterschied von gut zweitausendfünfhundert Metern vom Hochland ans Rote Meer und wieder zurück unterwegs. In dieser Zeit habe ich einen wunderbaren ersten Eindruck von Massawa bekommen, über das an anderer Stelle noch ausführlich berichtet werden soll. Die Festlichkeiten zur Befreiung Eritreas sind jedoch vollständig an mir vorübergegangen und ich habe, ob der Besonderheit der Situation, überlegt, vielleicht sonntags für den letzten Tag der Festivitäten diese Affentour noch einmal zu wiederholen. Eventuell diesmal sogar mit ein paar Programmdaten, was an dem Tag stattfindet. Für deren Recherche treffe ich am nächsten Tag im Tourismusbüro neuerlich auf hinreißende junge Menschen, die bisher weder ein Programm der Massawa-Feier gesehen haben, noch wissen, wo man es bekommen kann. Sie merken selbst, dass hier wohl noch Raum für Verbesserungen des Dienstleistungsangebots besteht und bekunden mehrfach ihr Bedauern, keine Auskunft geben zu können. Das hilft mir aber aktuell nicht weiter und es bleibt für mehrere Stunden die spannende Frage, ob, wo und wie ich Informationen bekomme, um zu entscheiden, inwiefern der neuerliche Gewaltakt einer Busfahrt nach Massawa angezeigt ist.
Im Verlauf des Tages lasse ich den Plan schließlich fallen, auch weil einer der zahlreichen – anlässlich des Jahrestags extra angereisten - Auslandseritreer erzählt, Präsident Afewerki würde sonntags um sechs Uhr morgens(!) zur Kranzniederlegung am Denkmal in Massawa erwartet. Diesen Termin schaffe ich mit keinem Bus der Welt und eine Anreise am Vorabend ist wegen sämtlicher ausgebuchter Unterkünfte unsinnig. Darüber hinaus wird über den offiziellen Teil der Gedenkfeier live im Fernsehen berichtet, und da in Asmara in fast allen
Geschäften oder Lokalen TV-Geräte stehen, hatte ich mittlerweile vielfach Gelegenheit, über Stunden dem offiziellen Geschehen in Massawa folgen. Auch diese Anschauung hilft bei der schlussendlichen Entscheidung, statt einer strapaziösen Bustour einen ruhigen Tag in Asmara zu verbringen. _
Sonntags liegt das Zentrum von Asmara in friedlich sonnigem Ruhezustand. Bis auf ein paar Cafés und Bars haben alle Geschäfte geschlossen, Menschen flanieren entspannt und in Feiertagskleidung über die Trottoirs.
Nur wenige Autos beleben den Straßenverkehr. Gelbe Taxen, zumeist japanische Fabrikate mittleren Baujahrs, fahren langsam auf der Suche nach Passagieren nahe der Bürgersteige entlang. Man kann diese Taxen entweder auf ‚contract‘ buchen, dann hat man das Fahrzeug für sich alleine und handelt mit dem Fahrer einen individuellen Preis aus, oder als ‚shared Taxi‘, bei dem sich verschiedene Fahrgäste über die grobe Richtung einig sind und je zehn Nakfa - ungefähr sechzig Cent - pro Kopf bezahlen. Ich habe das System der shared Taxis schnell schätzen gelernt und nutze es fast ausschließlich zu jeder Tages- und Nachtzeit, um von meiner Unterkunft in die Stadt und zurück zu fahren. _
Der sonntägliche Bummel durch die Stadt gerät im Laufe des Nachmittags unter anderem zu einer Kinotour der Extraklasse. Warum auch immer erbaute Italien in Asmara zwischen 1935 und 1941 eine Reihe von Kinematographie-Kathedralen, die bis zum heutigen Tag in ihrer ganzen architektonischen Schönheit hier stehen und nach wie vor mit regelmäßigen Filmvorführungen überwiegend untertitelter indischer oder arabischer Produktionen bespielt werden. Die Säle werden außerdem dazu benutzt, große Fußballspiele auf die
Leinwände zu projizieren. An diesem Wochenende sind es unter anderem die Begegnungen von Sheffield gegen Bournemouth und zweieinhalb Stunden später Manchester City gegen Westham, deren BBC-Übertragungen mit Zetteln in den Eingangstüren angekündigt werden.
In manchen der Häusern stehen im Foyer, sorgfältig aufgearbeitet und gepflegt, die Projektoren aus der Vorkriegszeit, die als technische Erstausstattung von Europa nach Afrika verschifft wurden. Es wundert bei all dieser offensichtlichen und aktiv ausgelebten Liebe zum Kino auch nicht, dass in Asmara Kulturprogramme wie die jährlich stattfindende europäische Filmwoche veranstaltet werden. Plakate früherer Festivaljahre mit Werbung für Truffaut-Filme oder Blaue-Engel-Vorführungen hängen noch heute in den Schaukästen des atemberaubend schönen ‚ Cinema Roma‘.
Das ‚Roma‘ ist von diesen Häusern nach wie vor das vornehmste und -außer dem ‚Teatro Asmara‘- augenscheinlich auch das am besten Instand gehaltene. Große, bepflanzte Kübel dekorieren die marmornen Eingangsstufen hinauf zu den vier Meter hohen Eingangsflügeltüren. Das Foyer, eingerichtet und belebt mit einem schönen und atmosphärestarken Café, würde in jeder westlichen Metropole ebenso Entzücken hervorrufen, wie die sorgfältig gerahmten Hollywoodhelden der Sechziger- und Siebzigerjahre mit Konterfeis von Barbra Streisand über Steve McQueen bis zu Charles Bronson. Seinen Wurzeln huldigt das Haus zudem mit einer eigenen Photowand italienischer Filmklassiker inklusive Anita Ekbergs Bad im Trevi-Brunnen.
Zuschauerraum des Teatro Asmara
Zuschauerraum des Cinema Roma
Ganz Asmara besticht durch eine unglaubliche, fast symbiotische Mischung afrikanischer und europäischer Kultur, aber im ‚ Cinema Roma‘ ist diese Verbindung fast am eindrücklichsten spürbar - vielleicht auch, weil sie so unangestrengt und selbstverständlich daherkommt.
Sonntagnachmittag im Café des Cinema Roma
Eine weitere Gemeinsamkeit der Kinopaläste ist, abgesehen vom italienischem Ursprung und der Übertragung britischer Fußballduelle der Premier League, die Tatsache, dass in allen Foyers auf großen Bildschirmen nonstop Nachrichten von CNN oder der BBC laufen. Zwar ohne Ton, aber die beiden Sender arbeiten mit so vielen Unter- und Zwischentiteln in ihren Nachrichtensendungen, dass eine fehlende Akustik dem Informationsfluss kaum einen Abbruch tut. _
Café-Foyer Teatro Asmara
Mein Touristenvisum impliziert eine generelle Erlaubnis zu photographieren.