Die vier Jahreszeiten des Sommers. Grégoire Delacourt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Grégoire Delacourt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783455170795
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Herz raste.

      Natürlich wollte ich dich küssen, Victoria, und dich berühren, dich streicheln, mich Sachen trauen und dir erzählen, wie lange ich auf dich wartete, von meinem Herzen, das jede Nacht donnerte, von meinen Händen, die zitterten, wenn sie meine Haut berührten und sich vorstellten, es wäre deine, von meinen Fingern, die von deinen fruchtigen Lippen träumten, von diesem hungrigen und grausamen Mund, der manchmal die leidenschaftlichen Worte einer Frau sprach.

      Aber Verliebte können auch sehr schüchtern sein.

      »Doch«, sagte ich schließlich. »Doch. Und wenn das Ende der Welt kommt, wäre das Letzte, was ich mir wünsche, das.«

      »Was?«

      »Ein Kuss.«

      Ihr helles Lachen flog empor. Eine Pusteblume.

      »Da!«

      Plötzlich drehte sie sich um. Ihr Mund presste sich auf meinen, unsere Zähne schlugen aneinander, unsere Zungen schmeckten einander eine Sekunde lang, sie waren salzig, warm, das war alles; schon war sie aufgestanden und lachte.

      »Ein Kuss ist wirklich nicht das Ende der Welt!«

      Dann schwebte sie wie eine Feder über die Düne davon.

      Und mir war zum Heulen.

      Ich traf sie am Strand wieder. Das Meer zog sich zurück. Victoria ging durch den Sand zu ihren Eltern, die nichts mehr erwarteten. Im Wind die lächerlichen Möwenschreie, die mich verhöhnten. Als ich sie einholte, sah sie mich an, ihr Lächeln war traurig und sanft.

      »Ich weiß nicht, ob ich in dich verliebt bin, Louis, auch wenn du mein bester Freund bist. Liebe ist, wenn man für jemanden sterben könnte. Wenn einem die Hände kribbeln, die Augen brennen, wenn man keinen Hunger mehr hat. Und bei dir kribbeln meine Hände nicht.«

      Ihre Unschuld brachte mich um.

      In der Nähe des Bankiers und der Leserin versuchte ein altes Paar trotz Wind und ungelenken Fingern sein Strandtuch auf dem Sand auszubreiten.

      Als ich ihnen zusah, stellte ich mir Victoria und mich vor, am Ende eines Lebens zu zweit, einer wunderbaren Odyssee, die hier auf einem Moped begonnen hatte. Ein halbes Jahrhundert später waren wir hierher an den Ort unseres ersten Kusses zurückgekehrt, wo wir versuchten, zusammen unser Strandtuch auszubreiten.

      Aber Victoria stürmte in eine Welt ohne mich. Eine Welt, in der meine geduldige Liebe und mein ungeduldiges Begehren nicht vorkamen.

      Sie war mein erster Liebeskummer. Und der letzte.

      Als ich aus Le Touquet zurückkam, war meine Mutter beunruhigt.

      Mütter sind Hexen. Sie wissen, welchen Schaden die Mädchen in den Herzen ihrer Söhne anrichten können. Sie blieb da, bei mir, für den Fall der Fälle.

      Und als die Tränen flossen, nahm sie mich in die Arme, wie früher, nach dem Unglück mit dem roten Wagen. Ihre warmen und zärtlichen Arme empfingen meine ersten Tränen, die die Welt wertvoller machten, wie sie mir damals erklärte, die meinen Eintritt in die Welt der Erwachsenen markierten. Meine Taufe.

      Victoria wartete auf mich im Garten der Delalandes.

      Sie saß auf dem Beckenrand, ihre Füße im Wasser sahen aus wie zwei rosige Fischchen.

      Sie trug ein weißes Blüschen über dem Bikini und eine Brille à la Audrey Hepburn, mit der sie wie eine kleine Erwachsene aussah. Zum ersten Mal sah ich sie mit knallroten Fingernägeln, zehn kleine, glitzernde Blutstropfen. An ihrem Hals nahm ich einen Hauch von Schnittlauch, Vanille und Orangenblüte wahr, das Parfum, das die Frauen aus den vornehmen Vierteln von Lille und die aufgedonnerten Mädchen hinter dem Bahnhof benutzten.

      Ich setzte mich neben sie und steckte wie sie die Füße ins Wasser, ließ sie kreisen, wie die von Victoria. Dann wurden die Kreise größer, unsere neugierigen Füße streiften einander, berührten sich in einem aufregenden Wasserballett. Ich sorgte dafür, dass meine Füße ihre streichelten, sich in der Intimität des Wassers einen Moment mit ihnen vereinten. Sie lächelte. Ich senkte den Kopf und erwiderte ihr Lächeln.

      Die Körperteile, die am weitesten von unseren Herzen entfernt waren, lernten einander kennen.

      Ich tastete mich mit den Fingern vor: Meine Hand näherte sich ihrer in dem langsamen Tempo fünf kleiner Blindschleichen; doch als mein kleiner Finger ihren kleinen Finger streifte, schnellte ihre Hand hoch, wie eine Heuschrecke, und landete auf ihrem Bauch, auf der Wärme ihres Bauches, und es kam mir vor, als wäre es um uns herum plötzlich ganz still, wie im Kino vor der spannendsten Szene.

      Ich sah sie an. Sie wich meinem Blick aus. Ihre Stimme war ernst geworden.

      »Ich kann nicht mehr mit dir Weißer Hai spielen, Louis. Auch nicht das idiotische Water Polo, obwohl du so witzig bist, wenn du eine Bombe machst, um mich zu beeindrucken.«

      »I-Ich …!«

      »Ich bin kein kleines Mädchen mehr«, unterbrach sie mich und ahmte die Damen nach, die zu Besuch kamen, um die Gedichte ihrer Mutter zu hören und Kuchen zu essen. »Ich bin auch kein niedliches kleines Mädchen mehr. Und dann bist du, bist du … du …«

      Sie holte hastig beide Füße aus dem Wasser, zog in einer unvergleichlichen Bewegung die Beine an sich. Und ich verstand.

      Das, was uns vereinen sollte, entzweite uns.

      Ein blutiges Rinnsal entriss uns einander.

      Ich hatte das Gefühl, dass sie mich in diesem Moment aus sich verstieß, mich, der ich nie in sie eingedrungen war, der brav und geduldig im Vorzimmer ihres Herzens gewartet hatte.

      Als sie verstummte, hatte ich weder Kraft zu sprechen noch wütend zu sein. Ich, der schlaksige Fünfzehnjährige, der Verliebte ohne Liebesworte, der blasse Träumer, ich entdeckte den Kummer, den riesigen Kummer, den, von dem Sylvie Vartan sang, On était des enfants/Notre peine valait bien celle des grands/Wir waren Kinder/Aber unser Kummer war schon erwachsen.

      Ich wollte meinen Körper im Schwimmbecken versinken lassen, das Wasser sollte mir in Mund, Nase, Ohren eindringen, mich verschlingen.

      Ich wünschte mir, zu Füßen meiner Prinzessin zu sterben, überflutet und ertränkt von ihrem ersten Blut.

      Ich stand auf. Gott, war mein Körper schwer! Er hatte soeben die Anmut der Kindheit verloren.

      Ich schnappte mir den Kescher und fing an, das Wasser zu reinigen. Ich fischte nach dem Blatt eines Pflaumenbaumes, Rosenblätter, halbtoten Insekten und meinen Träumen.

      Kurz darauf stand auch Victoria auf und kam um das Becken herum. Sie schmiegte sich an meinen Rücken. Ihre Arme umschlangen meinen Oberkörper, wie sie es sicher auf der »Bleue« gemacht hätte, wenn wir zusammen einem Leben zu zweit entgegengerollt wären. Bis ans Ende der Welt. In eine Zukunft, die eine Chance ist. Wir blieben lange so stehen. Unsere Körper atmeten im gleichen Rhythmus, wir waren eins. Victorialouis. Louisvictoria. Sieundich. Ein Moment vollkommenen Glücks. Unauslöschlich. Eine Erinnerung für ein ganzes Leben.

      Endlich verstand ich meine Mutter.

      So langsam, wie das Meer sich bei Ebbe zurückzieht, lösten ihre Arme die Umarmung, und die zehn Blutstropfen verflüchtigten sich. Sie drückte einen Kuss auf meinen Rücken. Und das war alles. Ich spürte eine riesige Leere, und als sie sich entfernte, legte ich meinen ersten Männerschwur ab:

      »Ich werde schnell groß, das verspreche ich dir. Wenn ich wiederkomme, sage ich dir das, was eine Frau verliebt macht.«

      Ende Juli fuhren die Augusturlauber fort. Sainghin leerte sich.

      Diejenigen, die schon lange nicht mehr wegfuhren, trafen sich am Tresen der Kneipen. Das waren ihre Häfen, ihre Aufbruchsorte. Sie zitierten Audiard: »Ich habe auch mal viel getrunken. Und ich bin weiter gekommen als bis nach Spanien. China, Yangtsekiang, haben Sie davon schon mal gehört? Manchmal passt er in ein einziges Zimmer!«

      Am 31. Juli gab