Victoria hatte eine ältere Schwester. Pauline. Eine siebzehnjährige Schönheit, aber da war auch etwas Dunkles, Verwirrendes, das mich ebenso erschreckte wie faszinierte. Etwas, das an die Sinne rührte. Schwindel weckte. Wenn ich mit meinen fünfzehn Jahren voller Saft, Ungeduld und Dringlichkeit nachts zu träumen begann, dachte ich an den Körper von Pauline.
Aber meine Liebe gehörte Victoria.
Ich weiß noch, wo ich sie zum ersten Mal sah. Es ist mehr als dreizehn Jahre her.
Ich kam in die Gemeindebibliothek und wollte mir ein paar Comics ausleihen. Sie war schon da, mit ihrer Mutter, die einen Gedichtband von Henri Michaux suchte. Hier gibt es ja überhaupt nichts, das ist keine Bibliothek, das ist ein Witz, regte sie sich auf. Aber wer liest denn heutzutage noch Gedichte, Madame, Gedichte! In Sainghin-en-Mélantois! Lesen Sie lieber Kriminalromane, hier, in diesem Buch finden Sie Poesie, Erlösung, Niedertracht, zerspringende Seelen.
Victoria schaute mich an, sie amüsierte sich über die Erwachsenen, schämte sich für ihre Mutter. Sie war elf. Die Haare blond wie die einer Schauspielerin, lang wie bei Brigitte Bardot. Unglaubliche Augen – dass sie genau die Farbe von Smaragden hatten, habe ich erst später gesehen. Und eine unberechenbare Dreistigkeit.
Sie war vorsichtig näher gekommen.
»Liest du Asterix, um Latein zu lernen?«
»Victoria!«
Sie lachte.
»Super, jetzt brauchst du nicht mehr nach meinem Vornamen zu fragen.«
Dann ging sie zu ihrer Mutter. Zum Glück.
Denn obwohl mir eisiger Schweiß den Rücken runterlief, war mir plötzlich ganz heiß.
Ich hätte kein einziges Wort herausgebracht.
Denn soeben war mein Herz explodiert, wie das meines Vaters.
Anfang Juli machte sich das halbe Dorf auf den Weg nach Le Touquet oder Saint-Malo, die andere Hälfte fuhr nach Knokke-le-Zoute oder De Panne.
Victoria und ich blieben in Sainghin. Wie meine Mutter, die für ihre Buchhaltungsprüfung lernte. Wie ihr Vater, der das Gesicht verzog, während er die Darlehensanträge der Studenten studierte. Wie ihre Mutter, die sich bemühte, aus ihrer Feder Worte fließen zu lassen, die eines Tages das Herz der Welt berühren und die Schwermut der Verzweifelten ins Wanken bringen würden. Pauline war in Spanien, sie lebte nachts, von Ponche Caballero und von Unbekannten.
Neben uns wohnten die Delalandes. Sie waren erst zwei Jahre zuvor aus Chartres hergezogen. Er war zum Autozulieferer Quinton Hazell in Fretin versetzt worden, sie fand im Jahr darauf eine Stelle als Dozentin für Bibelexegese an der Katholischen Universität von Lille. Beide waren um die vierzig, kinderlos, ein sehr schönes Paar. Er ähnelte dem Schauspieler Maurice Ronet, nur dunkelhaariger. Sie ähnelte Françoise Dorléac, in Blond. Sie sah ihn mit den Augen einer Aufseherin und einer Verliebten an. Einer eifersüchtigen Frau. Ihr Haus war eins der wenigen im Dorf, die einen Swimmingpool besaßen, und dank guter Nachbarschaftsbeziehungen hatte Gabriel – nenn mich Gabriel, hatte mich Monsieur Delalande gebeten – mich mit der Reinigung des Pools beauftragt, während er mit seiner Frau bis Anfang September an der baskischen Küste Urlaub machte. Sie suchten den Wirbel des Südwindes, den vent fou, wie man ihn dort nennt, und das Peitschen des Ozeans, hatte er uns erklärt, als wollte er uns daran erinnern, wie platt, traurig und ausweglos hier alles war.
Mit dem Geld für die Reinigung des Pools würde ich mir an meinem sechzehnten Geburtstag ein Mofa kaufen können. Victoria und ich hatten schon eins ins Auge gefasst, eine gebrauchte Motobécane, eine »Bleue« in gutem Zustand, die ein Rentner des Dorfes verkaufen wollte. Ich sah uns bereits auf dem langen, mit schwarzem Klebeband geflickten Plastiksattel sitzen, ihre Arme um meine Taille, meine linke Hand auf ihrer, ihr Atem in meinem Nacken, auf dem Weg in ein Leben zu zweit.
Ich konnte es kaum erwarten, dass sie älter wurde.
Ich konnte es kaum erwarten, dass ihre kindliche Anmut und ihr Duft nach Seife und Blumen verflogen.
Ich konnte es kaum erwarten, dass sie endlich auch so einen scharfen und warmen Geruch verströmte, wie ich ihn manchmal bei Pauline, bei einigen Mädchen meiner damaligen Klasse, bei manchen Frauen auf der Straße wahrnahm.
Jeden Morgen wartete ich bei ihrem Haus. Jeden Morgen kam sie auf mich zu geradelt. Sie lachte. Die Smaragde in ihren Augen glänzten. Und jeden Morgen rief die Dichterin aus einem Fenster im Obergeschoss, bevor sie sich wieder ihren melancholischen Versen zuwandte:
»Macht keine Dummheiten! Bring sie zum Mittagessen zurück!«
Wir waren allein auf der Welt. Wir waren Victoria und Louis, wir waren unzertrennlich.
Wir flitzten zur Marque, die bis Bouvines fließt – wie die gleichnamige Schlacht im Juli 1214 –, und wenn wir uns erschöpft auf den Boden warfen, flocht ich ihr Eheringe aus Gras, die sie lachend über ihre zarten Finger schob, und zählte die Anzahl unserer zukünftigen Kinder in der Falte ihres kleinen Fingers. Aber ich werde dich nicht heiraten, sagte sie. Und als ich fragte, warum nicht, antwortete sie, dann wäre ich nicht mehr ihr bester Freund. Ich verbarg meine Kränkung und protestierte:
»Doch! Ich bleibe immer dein Freund, mein ganzes Leben.«
»Nein. Wenn man sich richtig liebt, kann man sich verlieren, und ich will dich nicht verlieren, Louis.«
Dann sprang sie auf wie ein Zicklein und schwang sich wieder auf den Fahrradsattel.
»Wer als Erster zu Hause ist!«
Ihre Unschuld hielt mich auf Abstand. Das Ende der Unschuld nahm sie mir weg.
Da unterdrückte ich mein Jungsbegehren. Ich lernte Geduld – ein heftiger Schmerz.
Wenn wir zur Mittagszeit nach Hause kamen, hatte uns ihre Mutter im Schatten der großen Linde im Garten ein Picknick vorbereitet: Schinken, Salat, Limonade, wenn es kühler war, eine Käsetorte, zum Nachtisch Arme Ritter oder Mousse au Chocolat. Ich mochte den Schnurrbart, den der Kakao auf Victorias Lippen zeichnete, ich träumte davon, ihn mit meiner Zunge wegzuwischen, während mein Blut sich staute und meinen Penis in ein gieriges Männerglied verwandelte. Hastig senkte ich vor Lust und Scham den Blick.
Die Nachmittage verbrachten wir im Garten der Delalandes. Victoria hatte Gabriel nur einmal kurz gesehen, das hatte genügt, sie fand ihn schön, »hoffnungslos, zum Sterben schön«.
Mit einem großen Kescher half sie mir, die auf dem Wasser schwimmenden Blätter aus dem Pool zu fischen. Einmal in der Woche musste ich mit einem Teststreifen den pH-Wert des Wassers prüfen und mich vergewissern, dass er immer bei 7,4 lag.
Die meiste Zeit über aber badeten wir.
Manchmal schwammen wir mehrere Bahnen um die Wette. Es war entzückend, wie Victoria auf dem Rücken schwamm, ihre Armbewegungen ähnelten denen einer Eisläuferin. Wenn sie so auf der Wasseroberfläche lag, dachte ich, sie werde davonfliegen. Im unendlichen Blau verschwinden. Mich verlassen. Dann tauchte ich, packte ihre Füße, hielt sie fest. Sie schrie, tat so, als hätte ich sie erschreckt. Und ihr Lachen flog sehr hoch, bevor es in mein Herz zurückfiel. Ich zog sie in die hellen Tiefen. Ich wollte untergehen, mit ihr untergehen, endlos versinken, wie in Abyss, und dieses Paradies, den Ort aller denkbaren Vergebung finden. Aber im letzten Moment stiegen wir immer wieder auf. Verschreckt und lebendig.
Wie gerne wäre ich mit ihr gestorben,