Heute ist der 28.03.2020. Seit drei Tagen arbeite ich nun wieder als Krankenschwester und merke auch im Krankenhaus, wie sich die Lage zuspitzt. Auf unserer Krankenstation liegen nun acht erkrankte Menschen, davon drei auf der Intensivstation. Aktuell sind der Gesundheitsbehörde 414 Patienten in Hamburg bekannt, die eine Covid-19-Erkrankung haben. Mir persönlich macht das wenig Angst, da ich denke, dass es nach und nach alle Bundesländer treffen wird. Die Pandemie wird sich auch noch weiterhin stark verbreiten. Immerhin hat man sich zwecks Eindämmung des Virus darauf geeinigt, alle Bars, Diskotheken und gastronomische Einrichtungen vorerst zu schließen. Außerdem müssen Kosmetiksalons, Friseure und Einkaufspassagen ihre Leistungen einstellen. Man solle sich zudem draußen nur mit Menschen aufhalten, mit denen man zusammenwohnt, und das auch nur, um Spazieren oder Einkaufen zu gehen. Ein erleichterndes Gefühl für mich. Wenn man manchmal bei einem Einkaufsladen sieht, wie zig Menschen mit zwei Metern Abstand voneinander entfernt stehen und lange warten, um endlich in den Laden zu kommen, oder abends die Straßen so leer sind, dass man jeden Fahrradfahrer hören kann, fühlt man sich so, als wäre man in einer Zombie-Apokalypse und jederzeit dem Tod ausgesetzt. Als ich gestern Abend nach vielen Unterhaltungen und Krisenbesprechungen im Krankenhaus nach Hause kam, erfuhr ich zudem, dass Matteo nun bis zum 19. April von der Schule befreit ist, was die Schulbehörden festgelegt haben, um das Virus einzudämmen. Ich kann mir vorstellen, dass es für meinen Mann hier zu Hause ebenfalls nicht leicht ist. Wie oft er an seine Grenzen kommen wird, wenn Alina schreit oder Matteo wie wild durch die Wohnung saust. Aber auch ich bin fertig. Fertig von den Dutzenden Fällen bei der Arbeit, die mich mitnehmen und weswegen ich seit Nächten wach liege und nicht schlafen kann. Fertig, da ich Angst habe, durch meinen Beruf meiner eigenen Familie zu schaden. Wie man merkt, bin ich ziemlich durch den Wind, und ich bin erleichtert, die nächsten zwei Tage frei zu haben, um mich ein wenig zu erholen und mich auf die kommende Zeit vorzubereiten.
Als ich mich nach meinen freien Tagen auf dem Weg zur Arbeit befinde, gehen mir viele Sachen durch den Kopf. Ich habe gehört, dass uns langsam die Beatmungsmaschinen ausgehen und andere wichtige Schutzutensilien. Wie sollen wir ohne diese Gegenstände arbeiten? Wie sollen wir uns schützen? Mein Handy piepst. Eine Nachricht meiner Kollegin: ,,Hey Malia, seit der dritten Krisensitzung gestern haben wir feste Patienten zugeteilt bekommen. Wir haben fünf neue Fälle, die du übernehmen wirst: Station sechs, drei Kinder und zwei Erwachsene, heute Morgen eingetroffen und auch an Covid-19 erkrankt. Gib dein Bestes! Kuss, Janette.“ Ich schlucke. Drei Kinder und zwei Erwachsene? Wow, das muss ich erstmal verkraften. Ich hoffe, dass es sich nicht um schwere Fälle handelt und wir noch ausreichend Beatmungsmaschinen haben, denn ich weiß, auch andere Krankenhäuser haben einen starken Notstand. Als ich nach einer Weile ankomme, sehe ich die Notaufnahme, komplett überlaufen, wie ich mir denken kann. Unzählige Verdachtsfälle, kein Wunder, wir machen hier über 200 Abstriche am Tag. Es ist Grippe- und Infektionszeit, wir sind also auch gut gefüllt, selbst ohne das Corona-Virus. Ende letzter Woche hieß es noch, wir sollen uns keine Sorgen machen, es sei genug Schutzkleidung da, aber alleine heute wurden die Bestände fast komplett aufgebraucht.
Als ich bei meinen Patienten eintreffe, fällt es mir unfassbar schwer. Vor mir liegen zwei kleine Kinder, ca. acht Jahre alt, beide erkrankt an Corona. Ich kümmere mich um sie, probiere ihnen Mut zuzusprechen, denn auch sie sehen, mit welchen Zuständen es hier vor sich geht. Als ich später hochgehe, auf die Intensivstation, sehe ich einen anderen kleinen Jungen, ebenfalls ca. neun Jahre alt. Er kommt aus Spanien, er war dort mit seinen Eltern im Urlaub. Er hängt an einer Beatmungsmaschine und ist ins künstliche Koma versetzt worden. Vor der Tür steht seine Mutter und als ich aus seinem Zimmer hinauskomme, läuft sie auf mich zu. Es fällt mir unfassbar schwer, sie aufzubauen, da ich weiß, dass das vorerkrankte Kind schlechte Chancen haben wird und ich ihr gegenüber sachlich und ehrlich bleiben muss. Es zerreißt mir das Herz. Ich gehe für ein paar Minuten auf die Toilette durchatmen. Solche Zustände, so viel Trauer und so viel Leid und Elend habe ich hier lange nicht erlebt, nein, noch nie. Ich begebe mich wieder zurück auf die Station zu den beiden Erwachsenen, einem Ehepaar, beide um die 30 Jahre alt und ebenfalls an Corona erkrankt. Ich untersuche sie und schließe sie anschließend an die letzten zwei Beatmungsgeräte an, die ich finden kann. Sie sehen schlecht aus, ihre Lippen werden immer blauer und ihre Gesichter immer blasser. Ich untersuche auch ihren Rachen und Lungenbereich und merke, dass sie noch keine allzu starken Schmerzen haben. Als der Tag sich dem Ende zuneigt, bin ich sehr erleichtert. Trotz alledem beschäftigt mich vor allem der kleine Junge, bis tief in die Nacht hinein. Wird er es überleben? Ich weiß, wie schlecht es um ihn steht, und meine Gedanken fressen mich bald auf. Werden die anderen beiden Kinder gesund bleiben? Es fühlt sich an, als ob ich darüber entscheiden werde. Ich weiß, dass es nicht so ist, doch trotzdem ist es ein schreckliches Gefühl.
Als ich am nächsten Morgen wieder zur Arbeit aufbreche, habe ich ein mulmiges Gefühl. Ich hoffe, dass wir keine schlimmen Fälle mehr reinbekommen werden. Wir sind nicht mehr in der Lage, Betroffene zu betreuen, denn wir haben keine weiteren Beatmungsmaschinen. Ich hoffe, die beiden kleinen Kinder heute nach der Kontrolle aus dem Krankenhaus entlassen zu können. Schon erschöpft von meinen Gedanken, komme ich im Krankenhaus an und mache mich fertig für meine Schicht. Als ich in das Zimmer der Erwachsenen gehe, sehe ich, dass sie deutliche Fortschritte gemacht haben. Ich denke, sie werden heute Abend entlassen werden können. Ein Fortschritt, immerhin. Ich mache mich auf den Weg zur Intensivstation und als ich sein Zimmer betrete, sehe ich seine Mutter, unter Tränen, sie weint. Ich ahne, was passiert ist, und ich merke, wie ich nach und nach immer schwerer nach Luft schnappe. Er hat es nicht geschafft, er ist gestorben. Ich frage, mich wo die Gerechtigkeit bleibt, ich meine: so ein kleiner Junge… Er hatte sein ganzes Leben noch vor sich, bis dieses Virus um die Ecke kommt und nach und nach Familien zerreißt. Ich fühle mit der Mutter, sie tut mir unfassbar leid. Ich will es nicht realisieren, doch ich weiß, ich muss weiterhin stark bleiben. Ich kümmere mich noch um das Nötigste und begebe mich zu den anderen zwei kleinen Kindern.
Als ich eintrete, sehe ich, dass das kleine Mädchen zittert und schwer Luft kriegt. Ich bekomme Angst, wo soll ich Beatmungsmaschinen herbekommen? Ich sehe ihr deutlich an, dass sie sofort auf die Intensivstation muss. Ab diesem Zeitpunkt fängt ein Wettlauf gegen die Zeit an. Sofort gebe ich überall im Krankenhaus Bescheid und probiere an eine Beatmungsmaschine zu kommen, vergeblich. Es gibt keine Masken mehr, aber das will ich nicht einsehen, also beschließe ich, mich heute nicht um die zwei Erwachsenen zu kümmern, sondern aktiv nach einer Beatmungsmaschine zu suchen. Ich schätze, ich sollte noch zwei bis drei Stunden Zeit haben, um eine zu finden, bevor es zu spät ist und das kleine Mädchen, Elisa, wie sie die Eltern vorhin nannten, ersticken wird. In aller Panik renne ich umher. Ich suche in jedem Zimmer, ich gehe selbst in die OP-Säle, doch auch dort wird alles benutzt. Ich wünsche mir zu diesem Zeitpunkt nichts sehnlicher, als aus diesem Albtraum aufzuwachen. Ich begebe mich in das Zimmer, zu dem kleinen Mädchen zurück, voller Wut, aber auch Traurigkeit. Mir kommen die Tränen, als ich sehe, wie das Mädchen nach und nach rot anläuft. Ich weiß, ich werde ihre Eltern nun anrufen müssen und ihnen diese schreckliche Nachricht übermitteln. Ich will es nicht, nein. Doch ich weiß, ich muss. Langsam begebe ich mich aus dem Zimmer hinaus, um die Kontaktdaten der Eltern des kleinen Mädchens zu holen. Ich denke, ich war um die 30 Minuten weg, es sollte sich nichts ändern an ihrem Zustand. Als ich jedoch zurückkomme merke ich, was es für ein Fehler war, wegzugehen. Der kleine Junge weint, und ich verstehe sofort. Er bekommt auch keine richtige Luft mehr, er atmet schon ganz schwer. Ich frage mich, wie ich nun diesen zwei kleinen Kindern noch helfen kann. Ich weiß aus Erfahrung, dass wenn die Luftzufuhr eines Kindes schwerer wird, sie noch um die drei Stunden zu leben haben. Ich muss es hinbekommen, sie am Leben zu erhalten, koste es, was es wolle.
Zuerst rufe ich jedoch die Eltern des kleinen Kindes an. Der Vater fängt sofort an zu weinen, als ich ihm berichte, dass wir nicht mehr genügend Ausrüstung besitzen. Nach längerer Stille sagt er, er werde seine Frau sofort ins Krankenhaus schicken und sich sofort auf die Suche nach einer Beatmungsmaschine für seine Tochter machen. Ich weiß, wie gering seine Chancen sind, aber ich möchte ihm seine letzte Hoffnung