Ihnen, liebe Leser, wünsche ich viel Vergnügen und Freude bei der spannenden Lektüre dieses außergewöhnlichen Buches, dieses Zeitzeugnisses der ganz besonderen Art.
Eugen Wenzel, April/Mai 2020
ALLES BEGINNT
19. März 2020, Malediven: Wir sitzen fest! Es ist nur ein paar Minuten her, dass uns die Nachricht erreichte, dass unsere Flüge zurück nach Hause gestrichen wurden. Alles nur wegen des Coronavirus! Der Leiter unseres Hotels, von dem wir erst einmal nicht wegkommen, meldet sich über die Sprechanlage:
„Liebe Hotelgäste, wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit, denn es folgt eine wichtige Durchsage: Wie Sie sicher mitbekommen haben, wurde sämtlicher Flugverkehr in verschiedene europäische Staaten aufgrund der CoVid-19-Pandemie eingestellt. Wir bitten alle Gäste aus Deutschland in den Gemeinschaftsraum im dritten Stock. Gäste aus der Schweiz in den…“
Der Leiter listet noch weitere Länder und Räume auf und die Ansage wird in mehreren Sprachen wiederholt, doch das alles bekomme ich nicht mehr wirklich mit. Wir begeben uns alle zügig in den Gemeinschaftsraum, wo ein großes Durcheinander herrscht. Alle sind durch diese neue Situation sichtlich aufgebracht. Mit der Zeit kehrt allerdings etwas Ruhe ein. Als wir uns setzen, habe ich Zeit, meine Mitmenschen etwas genauer zu betrachten. Mir fällt auf, dass so gut wie alle Altersgruppen vertreten sind.
Der Hotelchef betritt den Raum und bittet alle um Ruhe und Aufmerksamkeit. Er verkündet, dass wir natürlich vorerst im Hotel bleiben können, bis die Flugzeuge der Rückholaktion aus Deutschland kämen, um uns abzuholen. Er wüsste leider genauso wenig wie wir, doch verspreche er uns, dass er uns schnellstmöglich informiere, wenn es neue Informationen gebe. Es stehe uns natürlich gänzlich frei, das Hotel zu verlassen, allerdings rät uns der Hotelchef, dies nicht zu tun, um uns und Andere nicht zu gefährden. Abschließend weist er noch darauf hin, dass es in unserem Hotel noch keinen bestätigten Fall gebe und es ihn freuen würde, wenn dies auch so bliebe. Er verabschiedet sich, um die Gäste der anderen Länder zu informieren und zu beruhigen.
Als der Hotelchef gegangen ist, stehe ich auf. Mir ist klar, dass mich jetzt alle anschauen, aber genau das wollte ich erreichen.
„Wir sitzen offensichtlich alle im selben Boot“, beginne ich etwas nervös. „Was haltet ihr davon, wenn wir die Tage bis zu unserem Rückflug gemeinsam verbringen? Ich meine, wenn wir schon nicht rausgehen sollen, dann…“ Auf meinen Vorschlag folgt einen Moment lang Stille, bis sich ein Junge am anderen Ende des Raumes zu Wort meldet.
„Was für ein Quatsch! Was sollen wir denn alle zusammen machen? Da kann ich genauso gut auch in meinem Zimmer chillen.“
Ich möchte antworten, doch mir kommt eine ältere Dame zuvor:
„Also, ich finde die Idee ganz reizend. Du musst ja nicht teilnehmen, wenn du nicht möchtest, mein Junge. “
Er antwortet mit einem Augenrollen und geht. Ich betrachte die Szene leicht amüsiert. Ein Junge aus den vorderen Reihen wirft ein:
„Die Frage an sich ist aber berechtigt. Was wollen wir denn machen?“ Die ältere Dame antwortet:
„Also früher haben wir immer Brettspiele gespielt oder uns Geschichten erzählt, wenn wir etwas zusammen machen wollten. “
„Ich fände Geschichten erzählen toll“, antworte ich und bin glücklich, dass mein Vorschlag nicht komplett abgelehnt wurde. Ein junges Mädchen steht auf und sagt: „Okay, dann bis morgen! Ich freue mich schon.“
Sie lächelt mir zu und geht.
ERSTER TAG
Ich komme so gegen 17 Uhr in den Gemeinschaftsraum und zu meiner Überraschung sitzen dort sogar schon ein paar Leute von gestern. Ich freue mich und setze mich zu ihnen. Wir unterhalten uns kurz und ich schlage vor, noch auf ein paar Andere zu warten. Nach und nach trudeln weitere Menschen ein, unter anderem die ältere Dame von gestern. Langsam werden wir alle ein bisschen unruhig, deshalb schlägt ein Mann im mittleren Alter vor, dass wir doch jetzt anfangen können.
Erste Geschichte
Ein Mädchen im Schulalter überlegt, dass wir doch alle über das aktuellste Thema, also Epidemien oder Ähnliches sprechen könnten. Mir fällt dazu nicht auf Anhieb etwas ein, dem Mädchen aber anscheinend schon.
Januar 2020
Mittwoch. Ich steige aus der U-Bahn, als ich es das erste Mal höre. Ein Mann kommt auf mich zu.
„Das Virus wird uns alle einnehmen!“, ruft er. Seine Augen sind geweitet, rot und sie tränen fast.
Ich bin schockiert, von welchem Virus konnte die Rede sein? Covid-19, ein neuartiges Virus aus China. Aber das gibt es doch nur in China! Ich schüttele den Kopf und gehe weiter.
Donnerstag. Meine Freunde und ich sitzen im Flur und warten, bis der Unterricht beginnt. Einer niest. „Corona Virus!“, scherzt ein anderer. Ich lache, alle anderen auch. Es ist ja auch lustig. So abwegig, das Virus wird doch niemals in unserer unmittelbaren Umgebung ankommen. Das ist schwachsinnig. Absolut realitätsfern.
Freitag. „Es gibt über 5.000 Infizierte in China. Und schon zehn Tote. Wenn es denn stimmt.“ Im Flüsterton liest mein Sitznachbar die Nachrichten von seinem Handy. Ich lächle ihn an. „Mach dir keine Sorgen. Das ist alles ganz weit weg. Wir sind hier in Sicherheit.“
Februar 2020
Samstag. „Das Corona-Virus ist nun in Japan angekommen. Dort gibt es nun schon zwei Infizierte. Dennoch, Experten sagen, dass dieses Virus nicht gefährlicher als die Grippe ist.“ Beruhigt atme ich auf. Die Nachrichten berichten weiter über Krieg, aber das neue Corona-Virus kommt auch oft vor. -Am Anfang: Es gibt täglich ein einminütiges Update über die Situation im China. Aber trotzdem: Angst macht es mir nicht.
Montag. Heute höre ich nichts von dem Virus. Alles ruhig. Aber es bleibt in meinem Kopf.
Dienstag. Sturm. Es herrscht Sturm draußen. Das ist das Thema der Nachrichten heute. Nichts Anderes. Corona? Warum sollte man darüber berichten?
Donnerstag. Der erste Corona Virus Fall in Deutschland. Aber nicht in Berlin, sondern in Bayern.
Wir sind nicht in Gefahr. Ich denke nicht weiter darüber nach. Es gibt keine Gefahr.
Samstag. Der zweite Fall in Deutschland. Aber nicht in Berlin. Keine Gefahr. Keine Gefahr!
Sonntag. Ich war gestern Abend noch auf einer Party. Alles war normal. Ausgelassene Stimmung, manche haben ihr Bier geteilt, ich aber nicht. Ich mag das einfach nicht.
Freitag. Die Nachrichten berichten jeden Tag länger über das Virus, es scheint, als würde es nun als bedrohlich eingestuft werden. Dabei gibt es gerade mal 100 Fälle, verteilt auf zehn der 16 Bundesländer. Ich scrolle durch YouTube. Ich sehe Videos aus Wuhan. Die Leute stehen an den Fenstern und sprechen sich gegenseitig Mut zu. Ich freue mich darüber, dass endlich Wochenende ist. Ich bin auf eine Party eingeladen. Der 16. Geburtstag einer Freundin. Das wird toll. „Wohoo! Auf dieser Party verbreiten wir Corona! Corona-Party!“ Ich runzle die Stirn. Es gibt doch aber noch gar keine Fälle