An manchen Tagen ging sie nach dem Deutschkurs in die Uni, um ihre Freunde zu treffen. Sie sagten, ohne sie sei alles nicht das Gleiche. Ja, für sie genauso!
Zwischendurch rief sie Anant an und traf sich mit ihm. Manchmal gingen sie Tee trinken, manchmal fuhren sie nach außerhalb der Stadt, nur um dort einen Tee zu trinken und sich zu unterhalten. Er fand ihre Art immer erfrischend und hörte ihr gern zu. Er sagte oft zu ihr, sie solle bitte meditieren, da sie sich manchmal über verschiedene Dinge aufregte.
„Was soll bitte Meditieren bringen? Das löst doch keine Probleme. Das ist ähnlich wie den Kopf in den Sand zu stecken“, antwortete sie immer daraufhin.
Mit Anant blieb sie danach jahrelang in Kontakt, woran sie zu dem Zeitpunkt nicht gedacht oder es geplant hatte. Wenn sie in Bengaluru war, versuchte sie ihn und seine Familie zu treffen. Selbst Jahre später, wenn sie mit Max in Bengaluru war, gingen beide Anant und seine Familie besuchen. Jedoch telefonierten sie nicht mehr so regelmäßig miteinander. Aber so geschah es im Leben; manchmal blieben Leute im Herzen, ohne dass man ein Wort sagte, eigentlich, ohne dass man auch nur ein Wort sagen musste.
Vierundzwanzig Jahre später wurde Anant auch von der Frauengruppe kontaktiert. Suwarna war sich sicher, im Herzen würde er sie nie fallen lassen. Sie würde es nur schade finden, dass die Frauengruppe es erreicht hatte, eine Verzerrung in jede ihre Verbindung hineinzubringen.
Sie konnte nicht mehr so oft überall hingehen, da sie mit dem Moped unterwegs war, der Verkehr nicht ungefährlich war und sowohl ihre Mutter als auch ihre Tante und ihr Onkel ihr gesagt hatten, sie solle vorsichtig sein, nicht viel herumfahren, denn sobald die Einreisegenehmigung da wäre, müsste sie gehen, und ein Unfall würde alles verschieben, außerdem müsste dann ihre Mutter eine neue Genehmigung beantragen, und alle Unterlagen erneut zusammenstellen. Uff! Okay! Nicht mehr so viel herumfahren, einverstanden, dachte sie. Mit so einer Erklärung konnte sie leben, das klang für Suwarna sinnvoll, aber niemals mit der Erklärung, dass sie jenes oder jenes nicht machen sollte, weil sie ein Mädchen war, die Erklärung hätte sie nie akzeptiert, sie war fast allergisch auf solche Erklärungen.
Noch in ihrer Kindheit gab es immer wieder Diskussionen mit den Großeltern und einer Tante väterlicherseits darüber, dass Suwarna viel zu vielen Aktivitäten nachgehe und dass das alles für ein Mädchen nicht gut sei. Ihr Vater war etwas konservativer, außerdem wollte er innerhalb der Familie keine Konflikte und versuchte manchmal auf die Wünsche seiner Eltern und Schwester einzugehen, indem er versuchte, Suwarna einige außerakademische Aktivitäten zu verbieten. Zum Glück sah es ihre Mutter anders; sie sah, dass Suwarna Talent hatte und etwas machen wollte und hatte immer versucht, trotz vieler Diskussionen mit ihrem Vater, dass Suwarna an Aktivitäten teilnehmen konnte.
Am Ende der dritten Woche rief ihre Mutter an und sagte, sie wäre von der Ausländerbehörde verständigt worden, dass die Einreisegenehmigung bald fertig sein würde. Sie sagte, Suwarna sollte sich bereithalten, es könnte jeden Tag losgehen. Eine Woche später hieß es, es wäre so weit, Suwarna sollte den Flug buchen und nach Deutschland fliegen.
Suwarna verbrachte die letzten Tage wie in Trance, machte alles, aber ohne sich richtig daran erinnern zu können, sie tat es einfach, ein paar Sachen für sich einkaufen – Schuhe, eine neue Tasche, ein paar Sachen für ihre Mutter, die sie haben wollte, die Deutschkursbücher durfte sie nicht vergessen. Genau fünf von den insgesamt zehn Wochen Deutschintensivkurs hatte sie absolvieren können, als es Zeit war, sich zu verabschieden, von ihren Freunden – Pardhan, Harsh, Prabhakar, Shehnaz und Anant, von ihren Verwandten – Tante, Onkel, Cousine, von der ganzen Familie ihres Onkels, die sie mittlerweile ebenso gut kannte, von fast allen ihren Sachen, ihren Büchern, ihrer Kleidung, von der Stadt Bengaluru, von ihrem Leben dort, einfach von allem, und dann flog Suwarna nach Deutschland!
1 Flacher runder Reiskuchen aus der südindischen Küche.
2 Runde frittierte Teigware aus Kichererbsen- und Linsenmehl, salzig, mit einem Loch in der Mitte, wie ein Donut.
5.
Neu-Delhi
Juli 2019
Suwarna schrieb ihre Präsentation fertig, sie ging sie noch dreimal durch, das machte sie immer so. Beim ersten Mal schaute sie auf den Inhalt, ob alles drin war, das drin sein sollte, beim zweiten Mal noch auf Rechtschreibfehler, Formatierung, beim letzten Mal ging sie die gesamte Präsentation nochmal durch. Kleidung für den Montag vorbereitet, Laptop eingesteckt, damit der Akku nicht mitten in der Präsentation plötzlich ausging, das Kabel eingepackt sowie Brille, Heft, Kugelschreiber, damit sie am nächsten Morgen beziehungsweise nach ein paar Stunden nicht in die Hektik käme. Den Wecker gestellt, so, jetzt konnte nichts mehr schiefgehen, dachte sie und legte sich ins Bett. Es war bereits ein Uhr in der Nacht. Mit ihrer Vorbereitung war sie zufrieden, sie würde bestimmt gut schlafen können.
Suwarna lag im großen Bett in dem neuen Zimmer, das das Hotel ihr gegeben hatte, nachdem die Wasserleitung im Bad in ihrem vorherigen Zimmer nicht dicht gewesen war. Als sie am Freitagmorgen aufwachte und ins Badezimmer ging, fand sie das Badezimmer überflutet, also Wasser auf dem Boden, eine Wasserleitung war undicht. Sie holte alle Handtücher, die sie vorfand, legte sie auf den Boden, damit sie zum Waschbecken und Klo konnte, ohne dass ihre Hosen nass wurden. Beim Hinausgehen aus dem Hotel am Freitag hatte sie den Empfang darüber informiert. Ja, man würde sich darum kümmern. Als sie am Abend zurückkam, bot man ihr ein anderes Zimmer an. Sie wollte lediglich wissen, ob das neue Zimmer nicht kleiner als das aktuelle wäre. Nein, war es nicht. Okay. Sie packte ihre Sachen und ging in das neue Zimmer, oh, schön, dachte sie, es gab getrennte Schlaf- und Wohnzimmer, alles geräumig, sehr schön. Mehr Platz hat jeder gern.
Irgendetwas stimmte nicht, es war so ein komisches Gefühl. Sie fühlte es so stark, als ob Krallen sie gleich erreichen würden. Sie drehte sich um, und wieder, und wieder. Sie wusste nicht genau, was es war, aber es war sehr stark, sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas versuchte sie wegzuziehen. Komisch! Was sollte sie machen? Was könnte sie machen? Max würde schon länger schlafen, sie könnte, sollte, ihn nicht anrufen. Hm … Prabhakar könnte sie anrufen, und ein wenig plaudern, aber das wollte sie nicht. Den Tag zuvor war er so kurz angebunden gewesen und hatte sich seitdem nicht mehr gemeldet. Sujit könnte sie aber probieren, bei ihm in den USA würde es noch Mittag oder früherer Nachmittag sein, sie könnte mit ihm vielleicht ein paar Minuten reden.
6.
Mumbai
Bis 1991
Mumbai lag an der Westküste Indiens, circa in der Mitte zwischen dem Norden und Süden. Als Suwarna in Mumbai lebte, beherbergte der Großraum Mumbai bereits um die fünfzehn Millionen Menschen, eine richtige Großstadt. Sie war das Finanzzentrum, die Finanzhauptstadt des Landes Indien. Da war immer was los, viele Menschen, viel Verkehr, viele außerakademische Aktivitäten, Theater, Kinos, und natürlich, Bollywood.
Bollywood, angelehnt an den Namen Hollywood, die weltbekannte Hindi-Filmindustrie! In Bollywood wurden pro Jahr mehrere Dutzende Filme produziert. Die Leute in Indien gingen unheimlich gern ins Kino, so wie Suwarna. Es lebten viele Inder im Ausland, auch die Anzahl der Nicht-Inder, die Bollywood-Filme mochten und ansahen, war sehr groß, sodass sie ebenso in vielen anderen Ländern, vor allem in den russischsprachigen, sogar in den Kinos zu sehen waren.
Suwarna wurde in der berühmten Stadt Mumbai geboren und verbrachte die ersten über 15 Jahre ihres Lebens in der großen Metropole, als die Stadt noch Bombay hieß.
Ihr Vater arbeitete beim indischen Kernforschungszentrum. Das Kernforschungszentrum wurde Mitte der Fünfzigerjahre gegründet und hatte damals bereits über fünftausend Mitarbeiter. Damit die Mitarbeiter es nicht zu weit zur Arbeit hatten und bessere Wohnbedingungen genießen konnten, errichtete das Kernforschungszentrum gleich