Am schlimmsten waren die angeordneten Sonntagsspaziergänge mit Vater und Mutter im besten Stoff und mit mir im Matrosenanzug. Mutter und Sohn wurden regelrecht ausgeführt. Es wurde gezeigt, was man hatte. Nicht nur, dass es mir verboten war, in diesem Anzug herumzurennen und zu spielen, schlimmer noch war, dass ich brav zwischen den Eltern spazieren gehen musste. Mutter hatte ihr nettestes Lächeln aufgesetzt, während Vater kerzengerade und mit stolzer Miene entweder neben mir oder auch gerne vorneweg spazierte. Er zeigte damit eindeutig, dass er der Chef im Hause war und das Sagen hatte. Eine gewisse Ähnlichkeit mit anatolischen Familien heute ist nicht zu leugnen. Trafen wir Bekannte, so wurde der Hut gezogen, und ein leichtes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Ich fragte mich, wo er das gelernt hatte. Später ist mir klargeworden, dass er damit an Attraktivität gegenüber Frauen gewann. Gerne machte er weiblichen Bekannten gegenüber auch die eine oder andere „witzige“ Bemerkung, die meine Mutter mit einem Lächeln wegsteckte. Zu Hause aber konnte sie kaum eine giftige Bemerkung unterdrücken. Verletzende Äußerungen von seiner Seite ließen dann nicht lange auf sich warten. Aber das waren wir schon gewohnt. Ich sehnte das Ende dieser Familienausflüge herbei. Ich fühlte mich unwohl, für mich waren sie peinlich und entsetzlich langweilig.
Mach dich bloß nicht schmutzig, trichterten sie mir immer wieder ein. Einmal hatte ich die Erlaubnis bekommen, mein kleines Fahrrad auf einen dieser Spaziergänge mitzunehmen. Ich passte nicht auf und raste zu meinem eigenen Ärger hinunter in einen Bach. Ich hatte ein furchtbares Gebrüll von meinem Vater erwartet, war aber erst einmal erstaunt, dass er in schallendes Gelächter ausbrach. Er dachte nicht daran, mir aus dem Bach zu helfen. Wütend wuchtete ich mein Rad hinaus und machte mich in meinen nassen Klamotten auf den Rückweg. Ich weiß nicht mehr, auf wen ich mehr wütend war, auf meinen Vater oder auf mich. Meine Mutter nahm mich zur Seite, und wir liefen schnell nach Hause. Mir war kalt. Mutter wollte verhindern, dass ich eine Erkältung bekam.
Nie habe ich meinen Kindern so etwas angetan. Gingen wir einmal mit ihnen spazieren, so bestand immer die Möglichkeit, den einen oder anderen Spielplatz anzusteuern.
Bei der Pestalozzi-Schule begann die Mitte, das Zentrum von Haslach, gekennzeichnet durch einen Brunnen. Auch er überlebte die Jahrzehnte. Dahinter schloss sich das Franzosenviertel an, Wohnungen für Soldaten. Die Besatzung war noch in der Stadt. Wir gingen dort nicht hin. Erst später, in der Nähe neuer Wohnblocks, kam es gelegentlich zu Kontakten, die aber nicht gewollt waren. Mit dem Bau von neuen Häusern entstand in der Nähe ein Park. Dort trafen wir Teenager uns erst mit unseren Rädern, später mit Mopeds, meistens samstags und sonntags. Die Straße unserer Wohnungen war noch die alte, aber Haslach begann sich zu verändern.
Unsere Welt öffnete sich langsam. Neue Straßen wurden erkundet, zuerst dort, wo Klassenkameraden wohnten. Zusammen trauten wir uns auch in neue Gegenden. Ich hatte inzwischen die Bücherei und die Geschichten von Eroberern und anderen Abenteurern entdeckt. Meine Welt wurde größer.
Unsere Wohnung – meine Familie
Unsere Wohnungen waren klein und eng. Sie durften nicht viel kosten, aber sie waren trocken und warm. Das war nach all den Jahren im Krieg und den provisorischen Verhältnissen danach schon eine Art Wohlstand. Anderthalb Zimmer hatten wir zunächst, später zwei kleine Räume. Meine Eltern stellten das Wohnzimmer mit dunklen Möbelstücken zu. Gelsenkirchener Barock wurde dieser Stil später genannt. Es war etwas vorhanden, und sie waren stolz darauf.
Ich schlief die ersten Jahre auf einer hellgrünen Ausklappcouch im Schlafzimmer, später im Wohnzimmer. Vater hatte bestimmt, dass ich mit Beginn meiner Schulzeit einen eigenen Raum zum Schlafen haben sollte. Jeden Abend musste erst der Wohnzimmertisch verschoben werden, dann die Bettsachen aus dem Schlafzimmer geholt und die Couch aufgeklappt werden. Mehrmals hatte ich mir die Finger bei dem Versuch eingeklemmt, die Couch selber auf- oder zuzuklappen. Damit hatte ich zumindest nachts ein eigenes Zimmer und hatte das Wohnzimmer ab acht Uhr abends für mich allein. Die Eltern saßen am Küchentisch. Aber es war und blieb das Wohnzimmer. Später haben sie sich den ersten Fernseher angeschafft und ihn ins Wohnzimmer gestellt. Das Richten des Bettes verschob sich nun auf die Zeit nach der Tagesschau. Am Wochenende schauten wir gemeinsam eine Sendung; in den allermeisten Fällen waren das irgendwelche Shows mit Rateeinlage. Lou van Bourg und Hans-Joachim Kulenkampff waren nur einige der damaligen Showmaster, die unseren Abend bereicherten. Hatte Vater gute Laune, was selten der Fall war, holte er eine Flasche Wein aus dem Keller, und Mutter stellte ein paar Knabbersachen auf den Wohnzimmertisch. Ich kann mich allerdings nur an kleine Salzbrezeln erinnern. So saßen wir vor dem Fernseher und bangten mit den Kandidaten. Meine Mutter machte Bemerkungen über Kleider und die Schminke, Vater amüsierte sich über die „Blödheit mancher Kandidaten“.
„Du hättest das auch nicht gewusst“, behauptete Mutter. Sie wollte Vater bewusst ärgern. Der reagierte auch sofort auf seine Art:
„Halt doch deinen Mund!“ Damit war ihre Konversation erst einmal vorbei. Zum Ende der Sendung blies er den Zapfenstreich.
„Der Uwe muss jetzt schlafen gehen.“ Meine Mutter wäre noch gerne auf ihrem Stuhl sitzen geblieben. Aber sie hatte keine Wahl.
Später interessierten mich die Fernsehshows nicht mehr, und ich verzog mich mit meinen Abenteuerromanen an den Küchentisch. Erst die alten Filme von Charlie Chaplin oder Bonanza im Nachmittagsprogramm zogen mich wieder vor den Fernseher. Zu der Uhrzeit hatte ich ihn für mich alleine, ohne Kommentare von den Eltern.
Freunde der Eltern gab es nicht. Vater hatte keine Freunde, Mutter durfte keine haben. Bei uns gab es keine Einladungen, keine großen Feste, überhaupt keine Feierlichkeiten, außer zu Weihnachten. Selten musste ich mein Bett anderen überlassen.
Kam ein seltener Übernachtungsbesuch, so wurde mein Bettzeug auf die Küchencouch verfrachtet. Das Wohnzimmersofa bekam der Besucher.
Zu Weihnachten wurde es noch enger in meinem Schlafgemach. Meist hatte Vater irgendwo günstig einen für das Wohnzimmer viel zu großen Weihnachtsbaum der Sorte Fichte besorgt. Jedes Jahr kam er die Haustreppe hinauf, zog diesen Baum hinter sich her und stellte ihn fluchend auf dem Balkon in einen Eimer mit Wasser. Zum 24. Dezember richtete er den Baum zum Aufstellen im Wohnzimmer. Oft hatten die Schwierigkeiten schon damit begonnen, dass alle vergessen hatten, den im Eimer eingefrorenen Baum in die Wohnung zu holen, was wegen seiner Länge ein Problem gewesen wäre. Daher hackte er mit viel Getöse den Stamm aus dem Eimer. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein Baum einmal nicht gekürzt werden musste. So stand dieses Nadelgewächs erst einmal mit abgeknickter Spitze im Raum, um nach fachgerechter Schreinerart abgemessen und anschließend zur Behandlung mit der Säge zurück auf den Balkon gezogen zu werden. Manches Mal sägte er weiter an ihm herum, weil der Baum entweder immer noch zu hoch für die Baumspitze war, die ihm aufgesetzt werden sollte, oder weil der Stamm zu dick für den Ständer war. Ohne Fluchen oder Gebrüll liefen diese Aktionen selten ab. Danach hatte Vater wieder einmal schlechte Laune. Mutters Aufgabe war es nun, Kerzen und Weihnachtsschmuck anzubringen und als Höhepunkt Lamettastreifen, die schon in den vielen Jahren zuvor ihre Dienste geleistet hatten. Manchmal sah ich, wie meine Mutter aus Sparsamkeitsgründen die Fäden mit einem Bügeleisen glatt presste. Alles, was zum Schmücken des Baumes gefunden wurde, hing anschließend an den Zweigen. Zu guter Letzt kamen die Kerzen an den Baum. Mutter hatte sie kunstvoll aufrecht befestigt, doch am Abend hingen sie oft schlapp nach unten. Vater maulte,