Meine Mutter, eine kleine, mehr rundliche als schlanke Frau mit blonden Haaren, war im Vergleich zu meinem Vater still. Die Zeit während des Dritten Reiches und im Krieg hatte sie Gehorsam lernen lassen. Sie war die ideale Partnerin für Vater. Sie hielt Ordnung, wo er es nicht konnte, aber verlangte. Sie pflegte seine Kleidung, sie fand immer noch billigere Lebensmittelquellen, um den Zwang von meinem Vater zum Sparen entgegenzukommen. Mutter ließ sich viel von ihrem Mann gefallen, viel zu viel. Er brüllte sie an, er schlug sie, er demütigte sie verbal und vor anderen Frauen. Sie wurde wütend, sie weinte, sie spionierte ihm nach. Aber sie brachte zeitlebens nicht die Kraft auf, sich von seinen Fesseln zu befreien. Immerhin wusste sie auch zu genießen, wenn er sie ließ.
Heute, wo das Thema Flüchtlinge in Deutschland wieder aktuell ist, werden in den Familien die alten Erinnerungen wach, und die Medien bringen entsprechende Rückblicke. Viele von denen, die 1945 aus Ostpreußen oder Pommern gen Westen flüchteten, leben nicht mehr. Dennoch werden die alten Geschichten der Eltern und Großeltern wieder lebendig. Viele Kinder und Enkel erinnern sich.
In meiner eigenen Familie habe ich allerdings kaum etwas dazu erfahren. Für meinen Vater war das alles erledigt, und er versuchte, sich so gut wie möglich in seiner neuen Umgebung einzuleben. Er hielt auch nichts vom Trauern um die verlorene Heimat:
„Der Russe wird das Land nie wieder zurückgeben“, meinte er. Polen und Russland waren für ihn politisch dasselbe, da machte er keinen Unterschied. In meiner frühesten Jugend sah ich ab und zu eine Ausgabe des Ostpreußenblattes, aber es verschwand bald aus dem Haushalt. Suchte ich nach den Heften, wurde mir gesagt: „Das verstehst du noch nicht.“
Ich fand das sehr bedauerlich, weil ich die alten Bilder so interessant fand. Mutter erklärte mir, dass Ostpreußen für meinen Vater erledigt sei. Außerdem würde in dem Blatt Hetze betrieben. Gegen wen? Ich verstand das nicht so richtig, das Wort Hetze hörte sich für mich auch nicht so gut an.
An- und vor allem untergekommen waren meine Eltern, die aus Ostpreußen und Pommern kamen, in Südbaden: mein Vater zunächst bei der französischen Armee in Todtnauberg, meine Mutter in Freiburg und meine Großeltern mütterlicherseits am Kaiserstuhl.
Meine Eltern erzählten selten von ihrem Leben in der alten Heimat. Fing meine Mutter in meiner Gegenwart davon an, wurde sie schnell von meinem Vater zurückgepfiffen:
„Das will der Junge gar nicht hören.“
Für meinen Vater war das Hier und Jetzt die neue Heimat, und ich sollte nicht beeinflusst werden. Was eine selten gute Einstellung von ihm war. Noch heute hören wir die Schreihälse, die nach den Grenzen von 1939 rufen. Ihn zog es jetzt in die Berge, und er wanderte bei jeder Gelegenheit, wenn er nicht im Garten war. Mutter aber lebte bis zu ihrem Tod geistig in der alten Heimat weiter. Sie vermisste sie sehr. Sie war nie richtig in der neuen Heimat angekommen. Heute denke ich, dass sie ebenso traurig über ihre Situation in der Ehe mit ihm war. Kontakte durfte sie nur haben, wenn er es erlaubte. Und es waren nicht viele, die er ihr gestattete.
Meine Eltern versorgten mich nicht gerade bücherweise mit interessanten Informationen zur Geschichte der Vorfahren. Alles, was ich weiß, passt in wenige Sätze: Vater war in Königsberg aufgewachsen und 1933 Soldat geworden. Von diesem Jahr an war er nur noch an den Wochenenden und im Urlaub zu Hause gewesen. Nur selten machte er Andeutungen zu seinen Jungenjahren. Er und seine Freunde verbrachten viel Zeit mit dem Segelboot auf dem Fluss Pregel. Sie hatten die Boote selbst gebaut und segelten von Königsberg zum Frischen Haff. Wenn er darüber sprach, sah ich, wie sich das strenge Gesicht meines Vaters aufhellte. Das kam äußerst selten vor.
Über die Familie meines Vaters wurden keine Geschichten erzählt. Kein Wort zu Eltern, Geschwistern, Tanten. Eine einzige Fotografie existiert von den ernst blickenden Großeltern, Fritz und Johanna Trostmann, mit allen fünf Kindern: Lene, Paul, Erich, Willi und Ernst. Ich habe diese Großeltern nie kennengelernt. Gerne hätte ich mehr über sie erfahren. Was machte der Großvater, wie war sein Charakter? Und die Großmutter? Auf meine Nachfrage hörte ich lediglich, dass mein Großvater bereits während des Krieges in Ostpreußen starb, meine Großmutter kurz danach. Und die Vorfahren? Erst nach dem Tod meines Vaters fand ich Urkunden und ein paar Unterlagen in seinen Hinterlassenschaften. Erstaunlicherweise reichen sie bis 1754 zurück. Erichs Vater war Kutscher, seine Eltern übten handwerkliche Berufe aus.
Ernst, der jüngste Bruder, war im Krieg gestorben. Zu Paul hatte mein Vater keinen Kontakt, zu Lene und Willi nur ab und zu. Willi hat zwei Kinder, Alfred und Walburga, die ich noch heute jedes Jahr einmal treffe. Lene hat einen Sohn, den ich jedoch nicht kenne, und Paul hat keine Kinder.
Auch meine Mutter erzählte nicht viel über die Vergangenheit. Ein Vorfahr namens Carl Ludwig Hermann Ginnow wanderte mit seiner Familie über Bremen nach New York aus. Ihr Ziel war Oshkosh in Wisconsin, wo immer noch ein Teil der Familie lebt. Meine Mutter pflegte aber keinen Kontakt mit diesen entfernten Verwandten.
Und wie hatte meine Mutter die Flucht erlebt? Sie war auch über die Ostsee gekommen. War das eine Ferienreise? Immer waren sie vor „dem Russen“ geflohen, hieß es. Aber hatte sie mal einen gesehen? Auch ihre Mutter, meine Großmutter, hüllte sich in Schweigen. Das Erlebte muss schwerwiegend gewesen sein. Sie versuchten zu verdrängen. Für sie war alles vorbei: Wichtig war, dass sie lebten. Sie hatten Arbeit, eine warme, trockene Wohnung und zu essen.
Da ich vom Vater gelernt hatte, dass man nicht so viel fragen soll, bekam ich auch keine Antworten. Irgendwann hatte ich die Lust verloren, keine Antworten auf meine Fragen zu diesen Themen zu bekommen. Ich wuchs in Freiburg auf, hatte meine Freunde und hörte nur selten das Wort Vertriebene - mein Vater vermied es ganz und gar und verbot mir, es auszusprechen. Wahrscheinlich schwang für ihn in dem Wort ein Unterlegensein mit. Als Soldat wollte er kein Verlierer sein. Meine Mutter redete auf Geheiß vom Vater nicht mit mir darüber, sie musste schweigen. Jahrzehnte später habe ich es versäumt, nachzufragen. Als mein Interesse wuchs, waren die Eltern schon zu alt, um erzählen zu können. Hätten sie gewollt?
Manchmal bekam ich ein wenig davon mit, welche Schwierigkeiten sie als Flüchtlinge hatten, aber eher nebenbei. Weil die Wohnungsnot riesig war, wurden in der Nachkriegszeit Wohnungen und, falls nötig, auch einzelne Zimmer beschlagnahmt. Die Haus- und Wohnungsbesitzer waren gewiss nicht erfreut, und das schürte so manche Ressentiments. Meine Großeltern mütterlicherseits, Otto und Martha Bröker, die in Oberrotweil am Kaiserstuhl in der Nähe von Freiburg sesshaft wurden, bekamen das in den ersten Jahren tagtäglich zu spüren; sie hatten im Anbau eines Bauernhofs eine Zweizimmerwohnung zugewiesen bekommen. Ich erinnere mich, dass die vermietende Bäuerin auch zu uns unfreundlich war, und ab und zu fiel die eine oder andere Bemerkung über die Fremden. Dass die vom Geld der Einheimischen lebten und denen die Wohnungen wegnähmen – wenn ich so etwas heute, 60 Jahre später, höre, kommt mir das irgendwie bekannt vor.
Meine Großmutter beherrschte die Küche. Sie war eine kleine, etwas rundliche Frau, ihre langen Haare trug sie stets zu einem Dutt geknotet und verließ nie ohne Kopftuch das Haus. Großmutter verlor sich beinahe in der großen und spartanisch eingerichteten Küche. Der Herd wurde mit Holz befeuert. In den ersten Jahren gab es keinen Kühlschrank; eine Kammer diente dazu, die Lebensmittel frisch zu halten. Ein Bad gab es nicht. Waren wir zu Besuch bei ihr, so hatten wir uns in der Küche gewaschen. Ich war oft bei den Großeltern. Dort befand ich mich außer Reichweite meines herrschsüchtigen Vaters. Das wöchentliche Bad erfolgte in einer Wanne, in die ich als kleiner Junge gut hineinpasste. Großmutter machte dazu große Mengen Wasser auf dem Herd warm. Wenn ich eine Zeit lang eingeweicht war, wurde der Schmutz der vergangenen Woche von mir abgeschrubbt. Großvater sah sich die Szene mit einem verschmitzten Lächeln an.
Die Toilette war außerhalb der Wohnung. Ein überdachter Weg führte dort hin. Wasserspülung gab es erst Jahre später. Also musste man einen Eimer Wasser mitnehmen. Bibbernd lief ich als kleiner Junge ängstlich den Weg entlang, in einer den Eimer, in der anderen Hand eine Taschenlampe, denn weder draußen, noch auf jenem Örtchen gab es Licht. Im Winter, wenn alles eiskalt war, wurde im Flur abends ein Nachttopf bereitgestellt.
Im Wohn-Esszimmer stand ein riesiger graugrüner