Meine Großeltern halfen unentgeltlich auf dem Hof, und offenbar verschaffte ihnen das etwas Respekt. Ich sehe noch heute Großvater: Ein kleiner, zufriedener Mann mit rundem Kopf ohne Haare, ein ehemaliger Dampflokführer, wie er mit seiner Schirmmütze und Strickjacke vor der Scheune sitzt und Maiskolben entblättert. Meistens sah ich ihn lachend oder spitzfindige Bemerkungen über andere Leute machen.
Mit der Zeit durfte ich mich auf dem Hof frei bewegen und sogar mit dem Bauern aufs Feld fahren. Am Anfang hatte er noch Ochsengespanne, später einen Traktor. Neben dem Bauern auf dem Lanz zu sitzen oder oben auf dem heugefüllten Wagen schaukelnd die Welt an mir vorbeiziehen zu lassen, das war für mich das Größte. Wenn ich im Stall bei der Fütterung geholfen hatte, bekam ich das eine oder andere Mal ein Ei geschenkt. Triumphierend lief ich damit zu meiner Großmutter. Großmutter konnte sich für mich freuen. Meine Mutter war froh, wenn ich bei den Großeltern sein konnte, denn hier bekam ich gutes Essen. Meine Großmutter saß an der Quelle.
Außerdem war sie eine gute Köchin, von deren Kenntnissen ich noch heute profitiere. Ich koche gerne und weiß gute Zutaten zu schätzen. Großmutter war ehrlich, genau und streng. Ich fühlte mich aber frei bei ihr. Ich spielte viel mit anderen Kindern auf der Straße oder war mit unserem Hund unterwegs. Selten machte sie mir Vorschriften. Sie verlangte aber von mir Pünktlichkeit und Ehrlichkeit. Die Kirchturmuhr zeigte mir die Zeit an. Hatte ich etwas kaputt gemacht, musste ich es gestehen. Eine Strafe gab es nicht, wenn ich etwas kaputtgemacht hatte, sondern dann, wenn ich es verschwiegen hatte.
Großvater war zehn Jahre älter als Großmutter. In meiner Erinnerung saß er in späteren Jahren meistens am Fenster, rauchte ab und zu eine seiner Zigarren und hörte Radio. In den letzten Jahren hatte ihm Großmutter eines der ersten Batterieradios geschenkt. Großvater war inzwischen schwerhörig, und so hielt er sich das Radio ans Ohr. Großmutter wollte nicht, dass das Radio den ganzen Tag in voller Lautstärke lief. Wenn ich nach Oberrotweil kam, war es mit der Ruhe vorbei, was Großvater zu der Bemerkung veranlasste: „Wenn du wieder weg bist, mache ich drei Kreuze.“ Ich rannte gerne durch die Wohnung und machte mich oft lustig über ihn. Er nahm es mir nicht übel, aber Großmutter zog mich dann an den Ohren aus dem Zimmer. Gesprochen hat Großvater nur wenig. Solange er noch laufen konnte, verschwand er gelegentlich zu einem befreundeten Winzer und kam singend in der Nacht wieder nach Hause. Jeder, der ihn auf dem Heimweg getroffen hatte, konnte berichten, dass Großvater weiße Mäuse im Dorf gejagt hatte. Großmutter versank vor Scham. Er nahm die anschließende Predigt gelassen hin. Ich war elf Jahre alt, als er starb. Ich war traurig, freute mich aber, als ich sein Batterieradio bekam. Viel Freude hatte ich allerdings daran nicht. Für meinen Vater waren die Batterien viel zu teuer, und so stand das kleine Radio lange ungenutzt herum, bis es eines Tages verschwand.
Bedingt durch Krieg und Vertreibung lebten nur wenige Mitglieder der weiteren Familie in Süddeutschland. Ab und zu kam der Bruder meiner Mutter aus Österreich zu Besuch. Onkel Kurt hatte noch im Krieg eine Österreicherin geheiratet und ließ sich nach Kriegsende in der Nähe von Wien nieder. Selbst bei diesen Treffen im Haus der Großeltern, erzählte kaum jemand irgendwelche Geschichten aus der alten Zeit. Ab und zu machte meine Mutter eine Bemerkung über die Flucht. Offenbar wollte die aber keiner hören, denn es ging niemand darauf ein. Das Erreichte wurde in den Vordergrund gestellt. Es näherten sich die Jahre des Wirtschaftswunders.
Erst in ihrem achtzigsten Lebensjahr unternahm meine Mutter eine Reise in ihre Heimatstadt Stettin. Was erwartete sie? Sie war mit der falschen Hoffnung gekommen, ihre Heimatstadt im alten Zustand wiederzusehen. Aber das alte Stettin existierte längst nicht mehr. Sie selbst hatte berichtet, dass die Stadt schon kaputt war, als sie flohen. Menschen, die Stettin in der Zwischenzeit besucht hatten, hatten sie vor falschen Vorstellungen gewarnt. Sie kam enttäuscht und innerlich zerbrochen zurück.
Immer wieder lese ich heute Bücher oder höre Geschichten von Ostpreußen, diesem „weiten Land“ voller Mysterien. Es ist eine Landschaft aus Wäldern, Seen und Meeresküste, mit besonderen Menschen, die dort lebten. Auf einer meiner Dienstreisen nach Allenstein sah ich einen winzigen, viel zu kleinen Ausschnitt davon. In einem Januar fuhr ich von Warschau aus mit dem Zug und klebte am Fenster wie ein kleiner Junge. Der Anblick der Landschaft ließ die wenigen Erzählungen wieder aufleben. In der Poliklinik von Allenstein sprach mich eine Krankenschwester an, auf ostpreußisch. Bevor wir richtig ins Gespräch kamen, erschien der Professor, und sie verschwand in einem der zahlreichen Gänge des Krankenhauses. Warum habe ich die Gegend nie selbst erkundet?
Erst spät wurde mir die Geschichte der Flüchtlinge klar. Durch Film und Fernsehen und über die Familie meiner Lebenspartnerin bekam ich mehr Verständnis für das, was damals passierte. In der Schule wurde dieses Thema zu meiner Zeit nicht angesprochen. Behandelt wurde in Geschichte und Politik der Zweite Weltkrieg. Die Deutschen hatten ihn begonnen, und zur Strafe hatten sie Teile ihres Landes abgeben müssen. Thema war natürlich auch die Schreckensherrschaft des Hitlerregimes. Aber nie zur Sprache kam, wie viele Menschen im Zuge dieses Krieges ihre Heimat verloren hatten: Deutsche, Russen, Polen.
Und wir als Kinder? Schon auf dem Spielplatz gab es Kinder von Eltern aus Freiburg, Ostpreußen, Pommern oder Schlesien. Keiner von uns fragte danach. Das war uns egal – wir haben das gar nicht weiter bemerkt. Wir spielten, lachten, machten unsere Streiche miteinander. Nur manchmal fiel mir auf, dass manche Eltern den einen oder anderen Dialekt sprachen. Die Flüchtlingskinder sprachen hochdeutsch, die Kinder der Einheimischen taten sich schwerer damit. Wie das Leben so spielt, hatten die Flüchtlingskinder plötzlich einen Vorteil. Erst viele Jahre später wurde mir das Alemannische als Dialekt bewusst. Auf der Schule musste hochdeutsch gesprochen werden. Nur wenige Lehrer hatten einen süddeutschen Dialekt. Im Deutschunterricht wurden badische Worte nicht akzeptiert. Nur ab und zu, meistens zu Weihnachten, las der Klassenlehrer eine Geschichte auf Badisch vor.
Das alte Quartier
Seitdem meine Tochter mit ihrer Tochter, meiner Enkelin, im alten Haslach wohnt, komme ich hin und wieder in meine frühere Heimat und fahre auch durch die Straßen meines alten Viertels, den Luckenbachweg und die Markgrafenstraße. Seit den großen baulichen Veränderungen in den sechziger und Siebzigerjahren hat sich nicht mehr viel Neues getan. Die alte Schule als mächtiger dunkler Bau beherrscht immer noch das Zentrum. Alte Läden sind verschwunden, neue wurden eröffnet. Im Vergleich zu meiner Jugendzeit ist das Leben im Zentrum bunter geworden. Das liegt nicht nur an den Farben der Geschäfte, sondern auch an den Hinzugezogenen aus anderen Ländern. Unsere Eltern als Flüchtlinge wollten sich nur unauffällig eingliedern, die Neuen jetzt wollen ihre Identität bewahren. Keiner unserer Eltern hat damals einen Laden eröffnet. Der Obst- und Gemüseladen heute sieht italienisch aus. Südländisch die Atmosphäre und die Sprache. Zwei Supermärkte, eine Apotheke, ein Fahrradladen, ein Drogeriemarkt und ein Bäcker komplettieren das Angebot. Bäcker Pfeifle ist der einzige Laden, den es schon zu unserer Jugendzeit gab. Das Angebot an Geschäften ist gut. Früher war es anders, entsprechend unseren bescheideneren Bedürfnissen. Der Dorfbrunnen wurde irgendwann aus der Straßenmitte an den Rand verlegt, um für eine neue Straßenbahnlinie Platz zu schaffen. Heute fährt die neue Linie aber gar nicht mehr durch unser altes Viertel: Die Straßen dort sind verkehrsberuhigt. Auf meinem früheren Schulweg sehe ich nicht viele Veränderungen. Nur eine Tankstelle auf der anderen Straßenseite existiert nicht mehr. Der Weg zum Pfarrsaal und zur evangelischen Kirche hat allerdings große Veränderungen erlebt. Die vielen kleinen Geschäfte, oft auch die Häuser, gibt es nicht mehr.
Unsere Siedlung ist zeitgemäß renoviert worden. Aber die alten Teppichstangen sind immer noch da, ebenso wie die Balkone; auf unserem machte ich damals meine ersten Chemieexperimente. Entsprechend dem Zeitgeist sind die Außenseiten der Balkone nicht mehr einheitlich rotbraun, sondern bunt. Einige Erwachsene habe ich auf unserem Fußballrasen Federball spielen sehen. Und tatsächlich, ein paar Kinder spielten Fußball. Unter der Teppichstange stand der Torhüter. Bei einem Spaziergang durch das Wohngebiet stellte ich fest, dass ich inzwischen viel Abstand zu meiner alten Straße habe. Sechzehn Jahre lang habe ich dort gewohnt. Letztendlich nur ein Bruchteil meines Lebens, aber ein entscheidender für meine Prägung. Die Erinnerung ist geblieben und darf auch bleiben.
Unsere