Helle und der falsche Prophet. Judith Arendt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Arendt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783455009897
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flache Land gepeitscht. Dürre Kiefern bogen sich, einige wenige Häuser duckten sich noch tiefer zwischen Sandhügel und Hagebuttenhecken. Es war kalt und ungemütlich und es würde immer kälter werden. Der Sommer war vorbei, der Herbst gab ein kurzes Gastspiel, der Winter klopfte bereits an. Nichts schmeckte hier nach Pastis und Crémant, es war die Zeit für starken heißen Kaffee. Helle dachte an Bengt und Emil, die langsam im Volvo nach Hause gondelten. Im Moment fuhren sie vielleicht durch die Schweiz. Quälten sich über den San Bernadino. Sie wusste, dass Bengt am höchsten Punkt des Passes anhalten und mit Emil eine Runde drehen würde. Zu einem der unzähligen Wasserfälle oder Viadukte. Wie gerne wollte sie jetzt mit ihnen dort sein und sich nicht um tote Mädchen kümmern. Helle fühlte sich miserabel, hatte sie sich doch gestern noch einen Mord gewünscht, damit ihr Job bitte weniger eintönig sei. Und jetzt schien es ihr, als hätte sie sich damit das Schlimmste herbeigewünscht, als hätte jemand, der das Schicksalsrad drehte, sie für ihren bösen Wunsch strafen wollen.

      »Haben die Eltern sie zu Hause erwartet? Also, wissen wir, ob sie nach Frederikshavn wollte?«

      Jetzt nickte Jan-C eifrig. »Das ist eine wichtige Sache, der wir nachgehen müssen. Die Eltern waren sich nicht sicher. Die Mutter …«

      »Inez.«

      »… Inez meint, sich zu erinnern, dass Merle etwas von einer Party erzählt hat. Aber der Vater wusste nichts davon.«

      »Normale Väter wissen so etwas nicht. Nicht von ihren Töchtern«, kommentierte Helle.

      »Was bist du für eine Chauvinistin? Pfui, Helle, ehrlich. Ich jedenfalls weiß, wenn Markus auf eine Party geht. Und Bengt wusste von Leif und Sina sicher mehr als du.«

      »Touché.« Jan-C hatte recht. Was für eine blöde Bemerkung von ihr. »Also gut, ich konkretisiere das mal. Viele Väter wüssten so etwas nicht. Und insbesondere nicht solche wie Fredrick Brabant. Er ist ein hohes Tier bei DanEnergi. Der hat sicher eine Achtzig-Stunden-Woche. Bei Schulveranstaltungen war immer nur Inez da. Und zwar allein. Also …«

      »Okay.« Eine Sturmböe erfasste den Wagen, und Jan-C hielt das Lenkrad mit beiden Händen fest, damit sie nicht in den Graben geweht wurden. »Dann gilt es also rauszufinden, wo Merle hinwollte. Ole ist dabei und telefoniert die Freunde durch.«

      »Haben wir ihr Handy?«

      »Nein, nichts. Weder ihre richtigen Klamotten noch den Rucksack noch das Board.«

      »Der Körper wurde bestimmt abgetrieben. Wir müssen uns mit der Strömung beschäftigen …«

      Jan-C unterbrach sie. »Bin ich dran. Ich habe mit Trine«, er wurde rot, »darüber gesprochen. Sie können uns das ausrechnen, die Wetterdaten sind vorhanden. Keine Ahnung, wie die das machen, aber Windstärke, Strudel, Tidenhub – jedenfalls kann man das ungefähr berechnen, woher die Tote angeschwemmt wurde. Natürlich nicht auf den Meter genau, aber Trine kann uns sagen …«

      »Schon gut.« Helle hob müde die Hand. Sie wollte nichts darüber hören, wie lange Merle im Wasser getrieben hatte, wie viele Stunden die dunkle wilde Braut sie umklammert, ihren zarten Körper unter Wasser gezogen hatte, hinab in die schwarze Tiefe und wieder emporgespült in die gelbe Gischt.

      »Du und Trine?«, fragte sie stattdessen.

      Jan-Cristofer blickte nun zur Fahrerseite aus dem Seitenfenster. Er will sein glückliches Grinsen verbergen, dachte Helle unwillkürlich, dabei freue ich mich für ihn. Ein Licht in dieser Düsternis.

      »Wie lange geht das schon?«, fragte sie laut. »Und wieso hab ich davon nichts mitbekommen?«

      Trine war Hafenmeisterin in Skagen. Sie war ihnen bei dem Fall der Toten in der Düne begegnet und es hatte auf Anhieb gefunkt zwischen ihr und Jan-C. Aber das war nun beinahe ein Jahr her und Helle hat nicht das kleinste Anzeichen bemerkt, dass sich zwischen den beiden ernsthaft etwas ergeben hatte.

      »Ach lass«, sagte er jetzt. »Das ist im Moment nicht wichtig.«

      »Doch!«, gab Helle zurück, mit einer Heftigkeit, die sie selbst überraschte. »Sterne in der Nacht, mein Lieber, verstehst du?« Und dann knuffte sie ihn liebevoll in den Oberarm.

      Dreißig Jahre arbeiteten sie schon zusammen. Waren als Anwärter gleichzeitig zur Polizei gekommen. Hatten gemeinsam als junge Polizisten in Kopenhagen Dienst auf der Straße gemacht, in Christianias wilder Zeit. Helle hatte die Ehe ihres Freundes scheitern sehen und sein Abgleiten in die Sucht. Und nun war sie ehrlich froh, dass er es schaffte, seinem Leben eine neue, gute Richtung zu geben. Dass er nach dem Entzug seinen Sohn zu sich holen konnte, hatte sie und Bengt, der Jan-C ebenso mochte wie Helle, gefreut. Und dass er nun möglicherweise auch noch eine neue Liebe hatte, war umso verdienter.

      Helle wollte weiterbohren, aber jetzt setzte ihr Freund den Blinker und sie verließen die Hauptstraße und fuhren durch die idyllische Siedlung in Richtung Klitmarken und Meer. Je näher sie dem Wasser kamen, desto mehr Fahrzeuge parkten am Rand der schmalen Straße. Übertragungswagen, Presse, Schaulustige.

      Helle fror.

      Jan-C fuhr an allen Wagen vorbei bis nach vorne an die Absperrung. Ein Kollege winkte sie durch.

      Neben den anderen Wagen der Polizei hielten sie an, und Helle starrte durch die Scheibe auf die Dünenkuppe und die schwere See dahinter. Sie liebte das Meer so, wie sie es fürchtete. Sie war damit aufgewachsen, sie hatte größten Respekt vor seiner Kraft. Die Zerstörungswut der Wellen bei einer Sturmflut, die hinterlistigen Unterströmungen auch im flachen Wasser und die Kälte in der Tiefe, die sich ins Herz biss, sodass es aufhörte zu schlagen – all das hatte sie mehrfach erlebt. Hatte tote Badende und Segler gesehen, verwüstete Strandabschnitte und zerschellte Kutter. Die Vorstellung, dass Merle der Kraft der Nordsee schutzlos ausgeliefert gewesen war, deprimierte sie.

      Jan-C war ausgestiegen und öffnete ihr jetzt die Beifahrertür. In der Hand hielt er seinen Parka.

      »Zieh den an«, bat er sie. »Deine Jacke ist viel zu dünn.«

      Helle nickte und streifte sich seine Jacke über, die ihr zu groß, aber von seinem Körper angenehm aufgewärmt war. Der Wind hatte hier vorne an der Küste an Stärke zugenommen und riss an ihren Haaren. Einige Meter von ihrem Wagen entfernt, erkannte sie die Markierung und zwei Kollegen; das musste die Fundstelle sein.

      Helle stapfte los.

      Es war wie erwartet: nichts zu sehen. Außer sehr vielen Abdrücken im Sand. Der Meeresspiegel war angestiegen, zweimal war die Flut gekommen und nun herrschte wieder Ebbe. Alle Spuren, wenn es jemals welche gegeben hatte, waren beseitigt. Aber wenn es so war wie angenommen, nämlich dass Merle im Meer ertrunken und hierher angespült worden war, dann gab es auch keinen Tatort. Und demnach nichts zu untersuchen. Sollte sie an Land zu Tode gekommen und erst danach ins Meer gebracht worden sein, dann mussten sie woanders suchen.

      Helle stand mit den Füßen direkt an der Wasserkante und blickte die Küste nach Nordosten hinauf. Irgendwo dort musste Merle ins Wasser gegangen oder geschafft worden sein. Warum hatte sie sich entschieden, den Neoprenanzug anzuziehen und bei Dunkelheit im Oktober, bei Temperaturen deutlich unter zehn Grad, auf ihr Brett zu steigen und auf den Wellen zu surfen? Oder hatte sie das gar nicht vorgehabt? Was aber dann? Wieso sonst trug sie einen Badeanzug und den Neoprenanzug? Ihren Bruder hatte sie in normalen Klamotten verlassen, in den Akten fand sich eine genaue Beschreibung der Sachen, die sie getragen hatte.

      Und warum war sie hier am Strand gewesen? Ihr Zuhause war in Frederikshavn, einige Kilometer weiter die Küste hinunter.

      Hatte sie zufällig jemanden getroffen und war ihm oder ihr hierher gefolgt?

      Oder hatte sie von vornherein vorgehabt an diesen Strandabschnitt zu fahren? Hatte es die Party gegeben, von der Inez vage gesprochen hatte?

      Es war dringend nötig, mit ihren Freunden zu sprechen, beschloss Helle. Sie kannte einige davon, vielleicht würde sie die Gespräche führen müssen und nicht Ole. Vielleicht sagten ihr die jungen Leute eher etwas, weil sie sie kannten als Mutter von Leif, weil sie ihr vertrauten.

      Helle beschloss, ihren Sohn anzurufen. Um ein bisschen mehr über Merle