Helle und der falsche Prophet. Judith Arendt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Arendt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783455009897
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das Rote in ihren Augen sah, so lange, bis Bengt sie im Klammergriff ins Bett verfrachten und mit ihr schlafen würde. So sollte Urlaub sein! So sollte es sein, wenn man nicht als Kriminalkommissarin im kalten Jütland seinen Dienst tat. So war es gewesen, früher, vor den Kindern. In ihrem ersten gemeinsamen Urlaub, Bengt und Helle. Jung und wild. Damals waren sie mit Interrail durch Europa gefahren, Marokko war ihr Ziel, gekommen waren sie bis Saintes-Maries-de-la-Mer. Sechs ganze Wochen waren sie dort auf dem Campingplatz geblieben, Tage, die nach Wein und Salz, nach Haut und Meer schmeckten. Tempi passati.

      Jetzt saßen sie hier, in einer hübschen Ferienwohnung, die sie sich nur hatten leisten können, weil Nebensaison war, und plänkelten harmlos umeinander herum. Sprachen übers Wetter.

      Helle spürte den Blick ihres Mannes auf sich. Er hatte die Augen zusammengekniffen. »Du bist unfair«, sagte er.

      »Liest du meine Gedanken?«

      Er fasste an seinen roten Wikingerbart, durchzogen von ein paar weißen Haaren und strich darüber. Eine Beschwichtigungsgeste, so hatte ihre Tochter Sina es einmal genannt. Helle war es nie aufgefallen, Bengt selbst auch nicht. Aber es stimmte – jedes Mal wenn zwischen ihnen die Luft ein bisschen knisterte, streichelte Bengt seinen Bart.

      Jetzt nahm er ertappt die Hand von seinem Kinn. »Kannst du es nicht einfach genießen? Den Frieden, die Sonne.«

      Statt einer Antwort schob Helle ihre Hand über den Tisch, den ganzen Arm hinterher, bettete ihren Kopf darauf.

      »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, murmelte sie. »Scheißwechseljahre. Das hört nie auf.«

      Bengt nahm ihre Hand.

      »Du bist unzufrieden. Dir reicht dein Leben nicht. Meine Diagnose.«

      Helle schossen Tränen in die Augen, sie schloss die Lider. Er hatte recht. Sie liebte ihr Leben, aber seit ein paar Jahren wurde es weniger. Erst war ihre Tochter Sina aus dem Haus gegangen. Jetzt Leif. Emil war ein alter Hund, der sich bereit machte zu sterben. Auch ihre kleine Polizeistation schrumpfte. Amira war nach Kopenhagen gegangen. Jan-Cristofer arbeitete nur noch Teilzeit, um sich um seinen Sohn zu kümmern. Blieben sie und Ole, der sich ständig um Versetzung bemühte. Er wollte ebenfalls nach Kopenhagen, zu seiner Freundin Amira, und wer könnte es ihm verübeln? In Skagen hatten sie einem jungen ehrgeizigen Polizisten nichts zu bieten.

      Blieben Bengt und Helle, allein in einem ruhigen Leben. Zu ruhig, wenn es nach Helle ging. Sie bekam Beklemmungen, wenn sie abends nach Hause kam. In ihr wunderschönes Haus am Strand. Selbst gebaut, mitten in den Dünen, es konnte nicht idyllischer sein. Aber immer häufiger ertappte Helle sich dabei, dass sie sich noch nicht bereit fühlte für die Ruhe und den Frieden, der sie dort empfing. Es fehlte ihr an nichts. Mann, Hund, Freunde, Haus, Kollegen – es war perfekt. Sie würde eingehen.

      Konnte man an Harmonie sterben?, fragte Helle sich, mit dem Kopf auf ihrem Arm, ihre Hand in Bengts warmer Hand. Emils Fell an ihren Füßen, der Blick aufs Meer, ein Nebel von Pastis im Hirn.

      Die Reise war ihre Idee gewesen. Um der alten Zeiten willen. Weil es Emils letzte große Reise sein würde. Weil sie noch einmal die wilde Lust spüren wollte, die sie damals befallen hatte, als sie vor dreißig Jahren noch kinderlos in Südfrankreich gewesen waren. Sie hatte ausgeklammert, dass sie heute alt und dick waren. Wieder kinderlos zwar, aber jeder mit einem Päckchen auf dem Buckel. Bis in die Camargue hatte Helle dann auch nicht fahren wollen, nichts würde mehr so sein wie damals, und sie war zu der traurigen Erkenntnis gekommen, dass sie nicht mehr auf einen Campingplatz gehörten.

      Die Sonne schien und hinter ihrer Stirn stiegen schwarze Wolken auf.

      »Komm, lass uns den Sonnenuntergang am Meer ansehen.« Bengt stand auf und sofort hob Emil den Kopf. »Ja, mein Dicker, wir drehen noch eine Runde.«

      Als verstünde er jedes Wort, wuchtete sich der große Rüde mit Mühe auf die Hinterbeine. Helle vermied es, ihm dabei zuzusehen. Ihr Emil. Ihr über alles geliebter Emil würde gehen. Vielleicht nicht morgen oder übermorgen. Aber in absehbarer Zeit.

      Der Schmerz der Gewissheit seines nahen Todes war nicht auszuhalten für sie. Es gab Tage, da lief sie betäubt hinter ihm her, sah auf sein gemütlich wackelndes Hinterteil und dachte in ewiger Wiederholungsschleife: Du stirbst. Du stirbst! Wie oft drehte Emil ausgerechnet dann seinen großen Kopf zu ihr, und seine schwarzen Augen schienen zu sagen: »Na und? Ist nicht weiter schlimm.« Und dann schämte Helle sich. Für den Hund war es der natürliche Lauf des Lebens, Angst vor Tod und Verlust kannte er nicht. Warum ihn also mit ihrer Heulerei unnötig beunruhigen?

      Bengt und der Hund waren bereits die drei Stufen vom Ferienbungalow zur Straße gelaufen, aber Helle suchte noch nach ihrem Päckchen Tabak.

      Bengt drehte sich zu ihr um. »Ich habe dir ein Päckchen Gauloises besorgt«, rief er und lächelte. »Ohne Filter. Good old times.« Dabei kramte er in der Hosentasche seiner Bermuda, bevor er sich wieder umdrehte und bedächtig mit Emil an seiner Seite zum Strandweg zockelte.

      Helle hatte im vergangenen Herbst wieder angefangen zu rauchen, als die Tote in der Wanderdüne gefunden worden war. Vorgeblich, weil sie so gestresst gewesen war, tatsächlich aber hatte sie das Rauchen als Entspannungsritual für sich wiederentdeckt. Sie fand es gemütlich, im richtigen Moment mit einer Zigarette dazusitzen und an nichts zu denken als den perfekten Rauchkringel. Schwummerig wurde ihr aber noch immer davon, und es schmeckte auch nicht.

      Ein paar Sekunden verweilte sie auf der Terrasse und sah ihren Männern hinterher. Sie waren sich so ähnlich, fand sie, Bengt und Hund Emil. Unerschütterlich ließen die beiden Helles Launen über sich ergehen und hielten ihr unverbrüchlich die Treue. Hoffte sie zumindest. Würde Bengt sie betrügen können? Vermutlich war er dazu ebenso zu bequem wie sie. Emil dagegen hatte es versucht. Mehrfach. Jeder läufigen Hündin im Umkreis von fünf Kilometern war er hinterhergestürmt. Erfolglos. Und er war stets zu ihr zurückgekehrt.

      Ihr Handy zeigte den Eingang einer Nachricht an, aber Helle schaltete rasch auf Flugmodus und folgte schließlich den Herren zum Strand.

      Sie liefen ein paar Meter an der Wasserlinie entlang, durch Tang und Muscheln, Steine und zerdrücktes Plastik, bevor sie sich auf einen der Felsen setzten, der von der Sonne des Tages aufgewärmt war. Weitaus angenehmer als der kühle Sand.

      Bengt reichte ihr das Päckchen, sie zog eine Filterlose heraus und schnupperte daran. Ungeraucht rochen Zigaretten um einiges besser. Bengt gab ihr Feuer. Helle bewunderte ihn für seine Disziplin. Er leistete ihr alle paar Wochen mal Gesellschaft beim Rauchen, sie dagegen verspürte, kaum hatte sie dieses Laster wieder aufgenommen, jeden Tag mehrfach das Bedürfnis. Die ersten Züge saßen sie stumm da und beobachteten einen Kitesurfer draußen auf dem Meer, der geradewegs in den orangefarbenen Sonnenuntergang segelte.

      Bengt legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Schwer ließ Helle sich gegen ihn fallen.

      »War eine gute Idee von dir.«

      Helle nickte nur.

      »Ich wäre sonst vielleicht nie wieder hierhergekommen«, fuhr Bengt fort. »Südfrankreich.«

      Emil vergrub seine Schnauze im Sand und schnaubte tief. Dann scharrte er mit den Vorderbeinen, gab die Aktion aber schnell wieder auf. Die Arthrose.

      »Ich finde, du solltest dir Gedanken machen, wie es weitergeht.« Bengt warf einen Blick zu ihr hinüber.

      »Was, mit uns?« Helle bekam einen Schreck.

      »Quatsch. Was soll mit uns sein? Wir werden zusammen alt. Und lassen uns immer wieder mal therapieren.« Bengt lachte, dass sein Bauch wackelte.

      »Ja, ich weiß.« Natürlich war Helle vollkommen klar, wovon ihr Mann sprach. »Ich denke manchmal, es war ein Fehler, Frederikshavn nicht zu machen.«

      Nachdem sie den Fall im vergangenen Jahr aufgeklärt hatte, bot man ihr die Leitung der Polizeibehörde in Frederikshavn an. Ein mittelgroßes Kommissariat, mehr als fünfzig Mitarbeiter, deutlich bessere Ausstattung, große Fälle, mehr Verantwortung, mehr Aufgaben, mehr Arbeit und Herausforderungen. Aber Helle hatte gekniffen. Hatte sich eingeredet,