Helle und der falsche Prophet. Judith Arendt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Arendt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783455009897
Скачать книгу
etwas schräg und lachte dann. »Du sprichst so komisch, du bist nicht aus Dänemark, oder? Woher kommst du?«

      Jemi warf Nick einen irritierten Blick zu.

      »Doch. Ich bin hier geboren. Aber bei mir zu Hause reden wir alle so.«

      »Aha.«

      Zum Glück gab Merle sich mit der Antwort zufrieden, sonst hätte er sie bald wieder absetzen müssen, dachte Nick. Sie war gefährlich, ohne es überhaupt zu wissen.

      »Ich dachte ja, dass ich mehr Glück habe beim Trampen«, fuhr diese unbekümmert fort. »Ich meine, es sind doch ziemlich viele nach der Demo wieder nach Hause gefahren. Aber weil ich das Board bei meinem Bruder abgeholt habe, habe ich die meisten Mitfahrgelegenheiten verpasst.« Merle warf ihnen einen interessierten Blick zu. »Wart ihr auch da?«

      »Wo?«

      »Fridays for Future. In Aalborg.«

      »Was ist das?«, fragte Jemi.

      »Hä? Nicht dein Ernst, oder?« Merle lachte kurz auf, halb belustigt, halb schockiert.

      »War ein Scherz«, beeilte sich Nick einzuwerfen. Er wurde immer nervöser. Es war so eine Scheißidee, dieses Mädchen mitzunehmen. Sie mussten versuchen, sie so schnell wie möglich loszuwerden. »Natürlich wissen wir, was das ist. Aber nein, wir waren nicht da. Konnten heute nicht. Wir hatten zu tun.«

      Damit gab Merle sich zufrieden, aber Jemi ruckelte schon wieder nervös auf ihrem Sitz herum und kaute auf den Haarspitzen.

      »Also, wenn ihr wollt, kommt doch mit an den Strand. Das wird cool. Ich hab auch was zu rauchen dabei.«

      »Ich rauche nicht«, meinte Jemi, fast entschuldigend.

      »Ich rauche auch nicht.« Merle grinste. »Nur Gras.«

      Jemi guckte verständnislos. »Gras? Ehrlich, du rauchst Gras?«

      Merle lehnte sich mit einem Ruck gegen die Beifahrertür, sodass sie einen besseren Blick in ihre Gesichter hatte. Nick wandte seines ab. Er hatte noch immer die Kapuze des Hoodies auf, und seine Narbe befand sich zum Glück auf der Merle abgewandten linken Gesichtshälfte.

      »Ihr seid ja totale Freaks! Was geht mit euch?«

      Nick starrte auf die Straße. Er zog es vor, darauf nicht zu antworten. Jede Antwort war eine zu viel. Andererseits tat es ihm leid. Für Jemi. Er hatte ihr die Freiheit in den tollsten Farben ausgemalt, was sie alles sehen und erleben würde, dass sie endlich Leute kennenlernen würden, Leute in ihrem Alter, junge Leute, ohne Bibel in der Hand. Sie würden ihre Musik hören und die Welt sehen. Und nun war hier ein Mädchen, so alt wie sie, ein junges, freies Mädchen, das sie obendrein einlud, etwas Verrücktes mit ihr zu machen. Und anstatt sich zu freuen, ließen sie sich in die Ecke drängen und empfanden sie vor allem als: Bedrohung.

      Jemi machte einen Versuch der Erklärung. »Wir leben auf einer Farm, weißt du? Wir sehen nicht viel von der Welt.«

      Merle lachte auf. »Kein Scheiß – ihr werdet ja wohl Internet haben. Ich mein, ihr lebt doch nicht im Mittelalter.«

      Nick konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Jemi ihre Hände knetete. Sie war nervös, wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Hoffentlich rastete sie nicht aus. Er hatte es oft genug erlebt, wie sie reagierte, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlte. Sie konnte nicht so gut mit Worten umgehen, natürlich, sie hatte nicht einmal eine Schule besucht, sie lebte nicht unter Gleichaltrigen. In ihrer Welt gab es nur Hiob und die anderen. Die armen Gestalten. Die Diener Hiobs. Sein Volk. Es galt das Wort des Herrn, und der Herr im Königreich war Hiob. Er hatte auf alles eine Antwort. Er beendete jeden Satz, den Jemi nicht rausbrachte, stellte und beantwortete für sie jede Frage, die ihr Geist nicht in Sprache verwandeln konnte. Und manchmal ließ er Jemi einfach in all ihrer Hilflosigkeit stehen. Wenn sie nicht mehr weiterwusste, dann bekam sie diese Anfälle.

      Nick wollte sich nicht eingestehen, dass sie ihm in diesen Augenblicken unheimlich war. Es kam eine Jemi zutage, die er lieber nicht kannte. Sie wusste meistens nachher nicht, was geschehen war, war nicht Herr über das, was sie dann tat. Hiob war der Einzige, der sie in diesen Situationen in den Griff bekam. Allerdings war Nick noch nie dabei gewesen, wenn Hiob das regelte. Er wusste nicht, was dann geschah. Schlug er sie? Hypnotisierte sie? Gab ihr Drogen?

      Zuzutrauen war ihm alles.

      Die anderen sagten über Jemi, dass sie besessen war. Oder krank im Kopf. Aber die glaubten auch an Engel und so einen Scheiß.

      »Halt dich von ihr fern, sie ist böse«, hatte seine Mutter ihm gepredigt, aber gerade das hatte ihn so angezogen. Ihre überirdische Schönheit und diese dunkle Seite ihrer Seele.

      Aber jetzt, gerade jetzt, konnte er einen Ausraster ihrerseits am allerwenigsten brauchen.

      »Wir biegen da vorne ab«, sagte er unvermittelt und zeigte auf den Kreisverkehr in der Verlängerung der Straße. »Ich setz dich da ab.«

      »Spinnst du?« Merle schüttelte den Kopf. »Das war nicht abgemacht, wir sind doch gerade erst losgefahren. Ich denke, ihr fahrt mindestens bis Frederikshavn?«

      »Davon habe ich nichts gesagt«, antwortete er schroff. »Ich habe gar nichts gesagt. Du hast dich selbst eingeladen.«

      Er blinkte und stoppte den Pick-up kurz vor dem Kreisverkehr.

      »Ich denk nicht dran.« Merle setzte sich wieder gerade hin und Jemi blickte ihn stirnrunzelnd an.

      »Nick, doch nicht hier. Lass uns wenigstens zu einer Tankstelle fahren«, sprang sie Merle zur Seite.

      »Ich steig hier nicht aus – in the middle of nowhere«, sagte Merle und verschränkte die Arme vor der Brust.

      »Und ich fahr dich nicht weiter. Raus jetzt.«

      »Mann, dein Freund hat vielleicht eine Scheißlaune«, sagte Merle. »Ich hab’s ja gleich gemerkt, dass du keinen Bock auf mich hast, aber mal ehrlich – Nächstenliebe? Never heard?«

      »Nick?« Jemi klang ängstlich.

      »Ja, ist okay«, gab er klein bei. Wegen Jemi. Nicht wegen der Trulla. Ein Stück noch. Aber er würde zusehen, dass sie die Nervensäge so schnell wie möglich loswurden.

      Gigarot, Südfrankreich

      »Du auch?« Bengt hielt die Flasche mit dem Pastis fragend über Helles Glas. Sie nickte. Langsam wurde es ein wenig kühl, selbst hier. Helle schob ihre nackten Füße unter Emil, der regungslos bei ihrem Stuhl lag. Er hatte ein Alter erreicht, in dem sie ständig überprüfte, ob er noch atmete oder vielleicht schon für immer eingeschlafen war.

      Als wenn der Tod so gnädig wäre.

      »Hast du gesehen?« Triumphierend hob sie ihr Smartphone in die Höhe, damit Bengt sehen konnte, was die Wetter-App anzeigte: Skagen, sieben Grad. Helle wischte. Saint-Tropez, achtzehn Grad.

      »Das ist unfair.« Bengts Augen blitzten, Helle sah die Lachfältchen in den Augenwinkeln. »Heute ist es hier besonders schön gewesen und zu Hause außergewöhnlich schlecht.«

      »Es kann in Skagen niemals, niemals so warm werden wie hier. Ende Oktober!«

      »Wenn wir so weitermachen, schon«, widersprach Bengt. »Irgendwann wird es hier heißer und immer heißer. Die Wälder werden brennen, sogar im Winter. In hundert Jahren willst du hier nicht mehr leben – wenn es uns dann noch gibt.«

      Helle legte den Kopf in den Nacken und trank den mit Wasser verdünnten Lakritzschnaps in einem Zug. Das Thema deprimierte sie. Nicht im Urlaub, dachte sie. Können Probleme nicht auch mal Urlaub machen? Und schob das leere Glas dicht an die Flasche Ricard. Aber Bengt schüttelte den Kopf.

      »Lass gut sein. Du bist schon wieder streitlustig.«

      Helle öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder ohne Entgegnung, sie erinnerte sich an ihre Therapeutin.

      »Du hast recht«, gab sie stattdessen zurück und kam sich verlogen vor. Engelszungen, das