Das Göttliche muss uns also einen planmäßigen Rahmen des Lebens geben, in dem das individuelle wie das gemeinschaftliche Leben als das, was es ist, konkret möglich ist.
Diese Information wird uns ermöglichen, die Berichte der Religionsstifter und der Mystiker als religiöse Erscheinungen zu verstehen und bis zu einem gewissen Punkt zu überprüfen. Mit anderen Worten, dem Göttlichen selbst werden wir nie direkt begegnen können, es muss uns jedoch die Information bzw. die Hinweise geben, wie man sich seiner in der Welt vergewissern kann.
Das kann sicherlich nicht jedermann tun; da spielt schon Vertrauen eine große Rolle; dieses Vertrauen lässt sich aber, wie gesagt, nur bis zu einer gewissen Grenze überprüfen und begründen.
Das Göttliche muss uns diese Möglichkeit der Überprüfung gewähren. Wenn es will, dass man es und die von ihm offenbarte Lebenslehre ernst nimmt und dass man ihm aus klarer Überzeugung und mit gutem Gewissen dienen soll, dann muss es uns die Möglichkeit geben, von seiner Wahrheit überzeugt zu werden. Ist das nicht möglich, so bleiben uns nur die Natur im Allgemeinen und die menschliche Natur im Besonderen als die bestimmenden Faktoren menschlicher Orientierung in dieser Welt übrig.
Die besagte Überprüfung kann nur darin bestehen, dass das uns Offenbarte dem Wesen der Wirklichkeit und dem Wesen des Menschen entspricht. Beim Menschen reicht jedoch diese Entsprechung noch nicht aus: Die von Gott offenbarte Lebenslehre muss auch unbedingt das wesensmäßige Wachstum des Menschlichen fördern – individuell und gemeinschaftlich.
Das größte Problem in Bezug auf die Wahrheit ist nicht die Frage nach ihrer Erkennbarkeit, sondern eher die Bereitschaft der Menschen, sich ihr gegenüber zu öffnen: Oft ist das die ganz banale menschliche Eigenschaft, die uns daran hindert, verpflichtende Einsichten erkennen zu wollen und sie zu verinnerlichen.
Sich der Wahrheit als Wirklichkeit zu öffnen und die Folgen für sich aus den damit verbundenen Einsichten zu erkennen und sie somit zu verinnerlichen und zu leben, darin besteht das Wesen des menschlichen Wachstums und der menschlichen Reife als Maßstab des Fortschritts dieses Wachstums.
6. Was bedeuten nun die bisherigen Ausführungen für die Wahrheit einer möglichen Religion im eigentlichen Sinne? Welche Gestalt muss eine gültige Religion annehmen?
Bedenken wir, dass im Zentrum einer Religion das Göttliche steht, so bestimmt das Göttliche das, was die Religionsform genannt wird.
Nach unseren Überlegungen gibt es nur die Religionsform des Monotheismus als Antwort auf die oben gestellten Fragen.
Der Monotheismus wird oft als Eingott-Religion, als der Glaube an einen einzigen Gott definiert. Diese Definition ist aber irreführend und falsch.
Der Monotheismus behauptet nicht nur die (numerische) Einzigkeit des Göttlichen, sondern in erster Linie die absolute Andersartigkeit und die absolute Einzigartigkeit des Göttlichen, woraus die Einzigkeit notwendigerweise folgt. Diese Andersartigkeit und Einzigartigkeit kennen keine Ausnahme und sie sind uneingeschränkt in ihrer Geltung.
Andersartigkeit und Einzigartigkeit eines Etwas können wir nur durch Vergleich des Etwas mit einem anderen Etwas bestimmen. Mit dem monotheistischen Göttlichen verhält sich das jedoch anders. Per definitionem kann man es nicht mit irgendetwas vergleichen: Es ist buchstäblich nicht von dieser Welt.
Die Andersartigkeit und die Einzigartigkeit des Göttlichen sind eben ohne einen möglichen Vergleich, also absolut bestimmt. Die numerische Einzigkeit des monotheistisch bestimmten Göttlichen ist die unmittelbare, notwendige Folge der Absolutheit der Andersartigkeit und der Einzigartigkeit dieses Göttlichen.
Das Göttliche als etwas zu verstehen, das in jeder Hinsicht und ohne Ausnahme und auf gar keine Weise mit weltlichen Kategorien bestimmt und verstanden werden kann, bedeutet, dass das Göttliche notwendigerweise als unendlich und ewig verstanden werden muss.
Dass dieses Göttliche nicht nur da ist, sondern dass es die Welt geschaffen hat, dass es ein personales Göttliches für Welt und Mensch ist, dass es in das Weltgeschehen und in das Leben des Menschen eingreift, dass es die Welt lenkt und erhält, unser Wissen von dem, was es vom Menschen verlangt, unser Wissen von der religiösen Bedeutung der Natur der Welt und vom Wesen des Menschen, all das kann nur es uns offenbaren. Ohne die Offenbarung des Göttlichen gäbe es im besten Fall nur eine Religion des Menschen.
Das monotheistisch bestimmte Göttliche stellt den höchsten Grad der Abstraktheit dar und ist somit das Konkreteste schlechthin: Es gibt in der so verstandenen Wirklichkeit nichts, was nicht göttlich bestimmt ist. Es liegt am Göttlichen, uns von seiner übermenschlichen, wirksamen Lebendigkeit ein Zeichen zu geben, eine Wirksamkeit, die die Welt im Allgemeinen und die Sphäre des Menschlichen im Besonderen durchdringt, beherrscht und leitet.
7. Die Ausschließlichkeit so wie die maximale Abstraktheit des monotheistischen Göttlichen erzeugt für den Glaubenden das Problem der lebendigen Verbindung des Göttlichen mit dem Menschen.
Entscheidend ist dabei die Offenbarung, sie ist aber zunächst nichts weiter als die Offenbarung einer höheren, uns unbekannten Kraft. Als solche ist sie noch weit davon entfernt, eine göttliche Macht zu sein: Vielleicht handelt es sich hier bloß um eine gewaltige, uns nicht bekannte Naturerscheinung?
Die oben genannte lebendige Verbindung des Göttlichen mit dem Menschen muss sich schon in der Offenbarung des Göttlichen zeigen: In seiner Ausschließlichkeit und in seiner maximalen Abstraktheit muss es sich als die Macht zeigen, deren Wesen im Ganzen des Lebens und im Ganzen der Wirklichkeit wirksam ist.
Das Göttliche muss sich in seiner Offenbarung gleich als das Ein-Einzige der gesamten Wirklichkeit zeigen: Die Offenbarung muss die Ausschließlichkeit und die maximale Abstraktheit des Göttlichen in der ganzen Fülle des konkreten Lebens und des konkreten Daseins zeigen. Das Göttliche muss sich also nicht nur als Herr alles Wirklichen, sondern darüber hinaus als Herr der gesamten Wirklichkeit erweisen.
Angesichts solch einer Forderung verliert der Begriff des alltäglichen Glaubens als Ausdruck des Wissensmangels im Zusammenhang mit der Religion jegliche Bedeutung. Die so genannte persönliche Offenbarung des Göttlichen ist keine alltägliche Angelegenheit. Hier kommt das schon erwähnte fundamentale Vertrauen zum Tragen: Es ist ein Vertrauen, das sich zumindest seines Fundaments vergewissern kann.
Mit dem Vergewissern des Fundaments des Gottesvertrauens ist natürlich nicht die „Beweisführung“ für die Wahrheit der Religion gemeint. In so einem Fall hätte es keinen Sinn, von Vertrauen zu reden. Gemeint ist zunächst die Feststellung der fundamentalen Entsprechung der erkenntnismäßigen Wahrheit der Wirklichkeit mit dem Offenbarungsinhalt bzw. mit der Lehre Gottes über Mensch und Welt und über ihr Verhältnis zueinander.
Hier liegt zunächst der einzige für uns mögliche Maßstab für die Wahrheit der Offenbarung und mit ihr für die Bestätigung des tatsächlichen Bestehens des Göttlichen. Das ist das eigentliche Problem der Religionsstifter und der Mystiker aller Religionen zu allen Zeiten.
Die einzelnen Religionen mögen sehr unterschiedlich sein, ihr Fundament muss aber dasselbe sein: Eine Religion, die mit der Wahrheit der Wirklichkeit und mit dem in ihr eingebetteten Menschenverständnis nicht in Einklang steht, kann keine wahre Religion sein.
So z.B. kann eine menschenverachtende Religion, eine, die die Grundrechte des Menschen missachtet, eine Religion, die das Denken ignoriert oder verfälscht, keine wahre Religion
sein. Sie stellt als solche die Negation all dessen dar, was gut, wahr und wichtig ist.
Abschließend lässt sich also sagen, dass der Gottesglaube das erste sein müsste, auf das Kants Aufklärungsaufruf direkt angewandt werden sollte: Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit: "Sapere aude!". Denn der größte Feind aller Wahrheit im Allgemeinen und einer jeden wahren