Wie stehen diese zwei „Arten“ der Wahrheit zu einander? Mit anderen Worten: Worin besteht – wenn überhaupt – der Unterschied zwischen „religiöser Wahrheit“ und „wissenschaftlicher Wahrheit“? Handelt es sich hier um zwei Arten der Erkenntnis, die in der Bestimmung von zwei Arten der Wahrheit zum Ausdruck kommen? Kann das Ganze der Wahrheit in unterschiedliche Arten geteilt werden? Gibt es eine Möglichkeit, solche „Wahrheiten“ bzw. „Erkenntnisse“ zu vergleichen? Unterscheidet sich die religiös verstandene Wirklichkeit von der wissenschaftlich verstandenen?
6. Der Gang der Wirklichkeit wird von zwei gesetzlich konstituierten Ordnungen bestimmt: die Naturgesetzlichkeit und alles, was durch sie bestimmt ist, und die Gesetzlichkeit, die der Mensch bestimmt, entwickelt oder sich aneignet und nach der er handelt und lebt. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, seinen Willen so zu bestimmen (Freiheit), dass die Führung und die Tätigkeiten seines Lebens so bestimmt sind, dass sein persönliches Leben im Ganzen der Wirklichkeit spannungslos integriert ist. Darin besteht doch sein Wachstum. Und der Sinn des Lebens des Einzelnen besteht in dieser fundamentalen Entsprechung, zu der das Wachstum führt.
Betrachten wir die Wirklichkeit von diesem Standpunkt aus, so schimmert in uns die Ahnung, dass der Gang der Wirklichkeit nicht neutral ist, sondern eine bestimmte Richtung aufweist. Die Naturgesetzlichkeit und die durch sie bestimmten Gesetzmäßigkeiten bilden den festen Rahmen, in dem das menschliche Leben geführt wird. Die Gesetzlichkeit, die diesen Rahmen konstituiert, ist dem Menschen nicht nur unzugänglich, sondern absolut in ihrer Gültigkeit: Der Mensch kann vieles tun, aber das, was er tut, wird immer in Einklang mit dieser Gesetzlichkeit stehen und ihr entsprechend geschehen. Sie ist ihm von der Tatsache seiner Geburt bis hin zur Tatsache seines Tods aufgezwungen. Bedenken wir „nur“ die Bedeutung der Tatsache der Endlichkeit des menschlichen Lebens für das konkrete persönliche Leben eines Menschen!
Das deutet nicht nur darauf hin, dass der Gang der Welt eine bestimmte Richtung aufweist, sondern dass diese Richtung aktiv gesteuert wird. Wir haben die objektive Tatsache der Freiheit und der Verantwortung des Menschen für sein eigenes Leben in gleichzeitiger Verantwortung für die Welt hervorgehoben. Es ist die dringliche Aufgabe des Menschen, die seinem Wesen entspricht, das Ganze der Welt zum ruhigen Ausgleich zu bringen. Immerhin ist der Mensch die einzige Entität im Rahmen der Wirklichkeit, die diese Wirklichkeit in die Un-Ordnung führen kann.
Diese Tatsache kommt dadurch zum herausragenden Ausdruck, dass diese Freiheit als die Fähigkeit der Bestimmung des Willens nicht einfach darin bestehen kann, zwischen „gut“ und „böse“ zu unterscheiden und danach zu handeln, sondern sich für das vollkommene menschliche persönliche Leben zu entscheiden. Darin muss das Wesen einer jeden ernstzunehmenden Ethik bestehen.
Insofern besteht die Hauptfrage des Menschen darin, wie er sein Wachstum so optimal wie möglich fördern kann, so dass er – ideal gesprochen – jeden Moment seines Lebens, gleich wie dieses Leben beschaffen ist, als Lebens-Gewinn verstehen kann: Jeder Moment des richtigen Lebens bedeutet, ständig in der wirklichen Gegenwart zu leben. Gibt es eine treffendere tätige Bestimmung der eigenen persönlichen Identität?
Diese persönliche Gestaltung des eigenen Lebens hat selbstverständlich eine starke bestimmende Wirkung auf die Beziehung des Einzelnen zu anderen Menschen und zu Gruppen, zu Tieren und Pflanzen und zur leblosen Welt, lokal und global. Insofern nimmt der Mensch die Wirklichkeit mit sich in sein Wachstum – oder auch in seine Weigerung, diesen Weg des Wachstums auf sich zu nehmen.
Die Bestimmung des eigenen Lebens zum Leben in Wachstum führt die Wirklichkeit in eine Richtung, die über die erkenntnismäßig bestimmte Transzendenz hinausreicht.
Wenn diese Wirklichkeit einen Schöpfer hat, dann bedeutet diese persönliche Verwirklichung der eigenen Stellung in der Wirklichkeit, dass das eigene Leben nicht bloß mit dem Plan dieses Schöpfers in Einklang gebracht wird, sondern darüber hinaus, dass es die aktive Teilnahme an der Verwirklichung des Plans dieses Schöpfers bedeutet.
7. Im Grunde genommen stellt der religiöse Glaube die Erweiterung der systematischen Wirklichkeitsauffassung dar. Das Eigentümliche dieser Erweiterung besteht in der Begründung des Ganzen der Wirklichkeit in etwas, das als letzter, endgültiger objektiver Ursprung der Wirklichkeit gilt.
Das weltliche und das religiöse Weltbild stehen also auf gar keinen Fall in Widerspruch zueinander. Es handelt sich um zwei Zusammenhänge, die Wirklichkeit als Ganzes einerseits und die Wirklichkeit in ihrem Ursprung („Grund“) begründet andererseits, die trotz der grundsätzlichen Unterschiede zwischen beiden Weltverständnissen – „Welt“ versus „Schöpfung“ – einander wirklichkeitsmäßig decken. Mit anderen Worten: Die Wahrheit der „Schöpfung“ erweitert die Wahrheit der „Welt“, lässt sie jedoch in ihrer eigenständigen Gültigkeit bestehen.
Wir können diese Beziehung anhand eines Beispiels vom physikalischen Weltverständnis verdeutlichen. Gemeint ist die Erweiterung des durch Newton, Kepler und Galilei geprägten physikalischen Weltverständnisses durch die moderne Physik.
Als Einheit ist die Welt, von der die alten und modernen Physiker sprechen, genau dieselbe – und doch nicht. Der Blick in das Innere der physikalischen Beschaffenheit der Welt zeigt ein völlig neues Verständnis der Natur und ihrer Zusammenhänge. Diese Schau zeigt eine ganz andere Welt als die der Physik Newtons. Diese wurde gewissermaßen transzendiert und vom Standpunkt „dieser Transzendenz“ betrachtet und neu bestimmt.
Jede dieser physikalisch bestimmten „Welten“ stellt nicht einfach einen eigenständigen Deutungszusammenhang dar, sondern sie stellen ganz unterschiedliche Wirklichkeiten dar. Die physikalische Welt nach Newton ist eine völlig andere als die physikalische Welt nach den Relativitätstheorien und nach der Quantenmechanik. Trotzdem ist die so genannte „nackte Realität“ dieselbe.
Ähnlich verhält es sich mit dem Wirklichkeits- und Schöpfungsverständnis. Die „nackte“ Realität ist dieselbe, jedoch das, wodurch ihre Wirklichkeit bestimmt ist, ist wesentlich anders. Der Begriff der Schöpfung enthält die Erweiterung des Wirklichkeitsgebildes auf eine Weise, die für die systematische Erkenntnismöglichkeit nicht zugänglich ist. Die Transzendenz, von der wir gesprochen haben14, stellt eine systematische, erkenntnistheoretische Bestimmung dar, die als solche keine religiös verbindliche Bedeutung hat.
Damit die Transzendenz eine religiöse Bedeutung aufweisen kann, muss ihr Begriff stark verändert werden, und zwar so, dass sie nur als ein notwendiger Aspekt einer größeren, umfassenderen Wesenheit verstanden wird, die mit dem Namen „Gott“ versehen ist. Und statt von systematischer Erkenntnis zu sprechen, reden wir von Glauben bzw. von Gottesglauben.
Was das konkret bedeutet, können wir anhand zweier Kategorien der Geschichtsauffassung verdeutlichen: die Kategorie der Geschichte im gewöhnlichen Sinne des Wortes und die Kategorie der Universalgeschichte.15
In der Geschichte im gewöhnlichen Sinne des Wortes, die die weltliche Kategorie der Geschichte ausmacht, geht es um das Miteinander, Füreinander und Gegeneinander bestimmten menschlichen Handelns, wobei dieses Handeln kausal ausschließlich auf menschlich bewusste Entscheidungen (und Reaktionen auf Entscheidungen) zurückgeführt wird. Die geschichtlichen Vorgänge werden so insgesamt als rational bestimmte Vorgänge dargestellt, also ohne nennenswerte „Zufälle“ einerseits, andererseits aber, ohne, um diese geschichtlichen Vorgänge zu verstehen, von der „Hypothese“ einer göttlichen Einmischung in diese geschichtlichen Vorgänge Gebrauch zu machen.
Die universalgeschichtliche Kategorie ist im Unterschied zur weltlichen Kategorie der Geschichte eine, die auf die Weltgeschichte als Gesamtgeschichte angewandt wird, um durch diese gesamtgeschichtliche Betrachtung eine Identitätsbestimmung von Völkern, Kulturen oder Religionen zu vollziehen und so auch ein umfassendes Verständnis über die eigene gegebene Gegenwart zu ermöglichen.
Dies wird vollzogen, indem man die Weltgeschichte unter dem Gesichtspunkt