4Ich entgegnete, daß ich davon nichts wisse. Auch hielt ich dies nicht für möglich. Denn die Kirche stand erhöht und um die Kirche herum war kein Raum für Grabstätten. - „Erkundige dich bei den ältesten Leuten deiner Pfarrei“, sagte er, „sie können vielleicht darüber Aufschluß geben.“
5Dann wandte er die geschlossenen Augen zu der Orgelbühne mit den Worten: „Du weißt, daß ich in rein materiellen Dingen keine Ratschläge zu geben pflege. Aber heute möchte ich eine Ausnahme machen. Du hast eine Orgel angeschafft. Sag deinem Organisten, er möge nach dem Orgelspiel jedesmal die Register wieder ganz in die Orgel zurückdrücken. Drei Register sind augenblicklich noch halb herausgezogen. Dadurch setzt sich Staub und Feuchtigkeit in die Orgelpfeifen und beeinträchtigt im Laufe der Zeit die Reinheit der Töne. Ein reines, schönes Orgelspiel trägt zur Verschönerung des Gottesdienstes und dadurch zur Ehre Gottes bei. Darum sage ich dir dies.“
6Der Spieltisch der Orgel war verschlossen, so daß man weder die Tasten noch die Register sehen konnte, selbst wenn man davor gestanden hätte. Erst recht nicht vom Altar aus, an dem wir uns in diesem Augenblick befanden. Aus dieser Entfernung hätte wir selbst dann nichts sehen können, wenn die Orgel offen gewesen wäre. Der Schlüssel zur Orgel hing im Sakristeischrank.
7Dann gingen wir zu einem Seitenaltar. Das Altarbild stellt den Tod des heiligen Josef dar. Jesus und Maria stehen an seinem Sterbebett. „Diese Darstellung ist nicht richtig“, sagte er, „Jesus war beim Tode Josefs nicht anwesend.“
8Nun gingen wir an den einzelnen Kreuzwegstationen vorüber. Bei der Darstellung, in der Veronika das Schweißtuch mit dem Bilde des blutigen Antlitzes Jesu zurückerhält, fragte ich ihn, ob diese Begebenheit bloß Legende oder Wirklichkeit sei. „Es ist Wirklichkeit und keine Legende“, war seine Antwort.
9Bei der Darstellung der Kreuzigung Christi fragte er mich plötzlich: „Was, glaubst du, hat bei der Kreuzigung den größten Schmerz verursacht?“ Ich erwiderte: „Die Annagelung.“ - „Nein“, entgegnete er, „nicht die Annagelung, sondern der Durst. Die Nägel wurden mit einem wuchtigen Schlag von den brutalen Henkersknechten durch Hände und Füße getrieben und verursachten zunächst eine nicht besonders schmerzliche Betäubung. So, wie eure Verwundeten im Kriege die schweren Verletzungen durch Kugel oder Granatsplitter im ersten Augenblick kaum fühlten. Aber der Durst infolge des Blutverlustes ist das Furchtbarste, auch bei euren Verwundeten. Er kann den Menschen wahnsinnig machen. Kein körperlicher Schmerz ist mit der Qual des Verdurstens zu vergleichen.“
10Beim Weitergehen gelangten wir zu einer Seitenkapelle. Darin war ein altes Marienbild aus Holz, das in den früheren Jahrhunderten in einem Kloster gestanden hatte, dessen Ruinen sich noch in der Nähe befanden.- „Dieses Bild“, sagte er, „suchen schon seit langem die leidenden Geister, die da unten im Tal bei den Ruinen des Klosters gebannt sind.“ - Ganz erstaunt fragte ich: „Warum suchen denn jene Geister schon so lange dieses Marienbild? Es ist hier doch leicht zu finden. Und zudem, was kann das Bild den leidenden Geistern nützen?“
11„Du verstehst das nicht? Nun, dann will ich es dir erklären. Siehe, die Geister, die zur Strafe für ihre Taten an irgendeinen Ort gebannt sind, dürfen über den für sie bestimmten 'Bannkreis' nicht hinaus. Aus diesem Grunde können auch die in jenes Tal bei den Klosterruinen gebannten Geister nicht bis zu dieser Kirche gelangen. Sie können das Marienbild also nur innerhalb ihres Bannkreises suchen. Und da finden sie es nicht. - Wenn du weiter fragst, was ihnen das Marienbild denn helfen könne, so ist es richtig, daß ihnen das Bild selbst keine Hilfe bringen kann. Aber etwas anderes, was mit dem Bilde zusammenhing, brachte ihnen früher Erleichterung. Als nämlich das Bild noch im Kloster stand, kamen viele Menschen, um vor dem Bilde zu beten. Bei dieser Gelegenheit verrichtete man auch Gebete für die 'armen Seelen', wie ihr die leidenden Geister nennt. Das Gebet kann zwar diesen Geistern nichts von ihrer Schuld und Strafe wegnehmen. Aber sie vernehmen das Beten, und ihre Gedanken werden ebenfalls auf Gott hingelenkt. Dadurch finden sie eine Erleichterung ihres Zustandes. Seit der Zeit nun, wo das Bild dort weggenommen wurde, kommt niemand mehr zum Beten dorthin, und die Geister vermissen die Wohltat, die ihnen einst das Gebet brachte. Sie wissen, daß das Beten im Zusammenhang mit der Anwesenheit des Marienbildes stand. Darum sind sie darauf aus, das Bild wieder dorthin zu schaffen.“
12Jetzt kamen wir an die Treppe, die zur Orgelbühne führte. Ich hätte nun gar zu gern gewußt, wie es sich mit den halb herausgezogenen Orgelregistern verhielt. Aber noch ein anderer Gedanke beschäftigte mich in diesem Augenblick. Ich legte mir nämlich die Frage vor, ob er wohl Orgel spielen könne. Daß der Junge es nicht konnte, wußte ich. Nur ein Bedenken hatte ich: Wird der fremde Geist soviel Gewalt über den Körper des Jungen haben, daß er Finger und Füße so schnell bewegen kann, wie es ein Orgelspiel erfordert? - Nur zaghaft sprach ich daher die Bitte aus, ob er nicht auf der Orgel spielen wolle. „Gern, wenn es dir Freude macht“, war seine Antwort. Sofort eilte ich in die Sakristei und holte von dort den Schlüssel zur Orgel. Wir stiegen die Treppe zur Orgelbühne hinauf. Ich öffnete mit dem Schlüssel die Orgel und sah sofort nach den Registern. Richtig! Da waren drei Register halb herausgezogen. Nochmals bat er mich, den Organisten darauf hinzuweisen.
13Dann setzte er sich an die Orgel, zog Register und begann zu spielen. Zuerst leise und zart in lieblichen Akkorden. Dann etwas stärker, und je länger er spielte, um so mehr schwollen die Töne an. Und auf dem Höhepunkt des Spieles war es ein Wogen und Brausen und Stürmen mit allen Registern, wie ein Orkan, der Bäume entwurzelt. Dann nach und nach ein langsames Abschwellen und zum Schluß ein wunderbar sanftes und friedliches Ausklingen. Kein Zweifel, hier saß ein Meister an der Orgel.
14Als er geendet hatte, drückte er alle Register in die Orgel und stand von der Orgelbank auf. Ich schloß die Orgel wieder zu. Da trat er vor mich hin und stellte die Frage an mich: „Weißt du, was ich soeben auf der Orgel gespielt habe?“ Ich antwortete mit „Nein“. - „Dein Leben habe ich gespielt“, sagte er ruhig.
15Ich sah ihn erstaunt an. Ich konnte mir nicht denken, daß man das Leben eines Menschen spielen könne. Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, begann er folgende Belehrung: „Das Leben eines Menschen ist wie ein Gemälde. Man kann malen in Farben, man kann auch malen in Tönen. Jede Farbe stellt einen Ton dar und jeder Ton eine Farbe. Es gibt Hellseher, die alle Töne in ihren Farben sehen und Harmonie und Disharmonie nicht durchs Gehör feststellen, sondern durch Anschauen der Tonfarben. Daher kann man jedes Gemälde spielen, als ob man Noten vor sich hätte. Wenigstens die Geisterwelt kann dies.“
16Ich verstand seine Ausführungen nicht. Sie waren mir zu neu. Schweigend gingen wir wieder die Treppe hinunter in das Schiff der Kirche bis zu der Türe, durch die wir hereingekommen waren. Hier blieb er mit den Worten stehen: „Ich will mich jetzt verabschieden. Ich kann nicht mehr mit ins Pfarrhaus gehen. Denn deine Haushälterin ist soeben im Begriff, aus dem Garten ins Haus zu kommen, und ich möchte nicht, daß sie den Jungen im Trancezustand sehe. Ich stelle mich jetzt an diese Wand. Stütze du den Körper des Jungen, damit er nicht zu Boden fällt, wenn ich aus ihm austrete.“
17Ich tat nach seiner Weisung und mußte meine ganze Kraft anstrengen, den beim Austreten des Geistes vornübersinkenden Körper des Jungen aufrecht zu halten. Sofort kam dieser zu sich und war sehr erstaunt, mit mir in der Kirche zu sein. Er wußte sich bloß zu erinnern, daß wir zusammen im Pfarrhaus gesessen. Von dem, was sich inzwischen zugetragen, wußte er nichts. Als ich sagte, daß er so schön Orgel gespielt habe, schüttelte er ungläubig den Kopf.
18In dem Augenblick, wo wir die Pfarrhaustüre öffneten, betrat auch meine Haushälterin, aus dem Garten kommend, den hinteren Teil des Hausflurs. Sie hätte also den Jungen in seinem Trancezustand gesehen, wenn der Geist, um dies zu verhindern, nicht vorher