„Denk ich auch.“
„Ihren Bericht bitte an Frau Micha.“
„Reicht morgen?“
„Eilt nicht.“
Der Doc ist dermaßen rational, richtig unnahbar, oder hat er mir jetzt mit seiner Reaktion gar neugieriges, affektives Interesse an diesem Detail unterstellt?, dachte er.
Jetzt stand er an dem Tisch mit den Kleidungsstücken und dachte zudem: Und der Doc ist ein penibler Perfektionist.
Die halb verrottete Kleidung war exakt zusammengelegt und obenauf lag das Revers der grünen Trachtenjacke mit den dicken Eichenlaubornamenten, elfenbeinfarben mit strukturierter Oberfläche, wie die eines Hirschgeweihs, braun touchiert. Die Knöpfe waren auch wie aus Hirschhorn gefertigt. Sie zogen den Blick durch die glatt gezogene Klarsichtfolie auf sich.
Er packte die Beutel übereinander, den mit der Jacke obendrauf, und nahm den Stapel mit beiden Händen. Dr. Friedrich öffnete ihm die Tür und sie verabschiedeten sich.
Er lief den Gang entlang, den Beutel mit dem Eichenlaubrevers vor der Nase. In den wechselnden Lichtreflexionen der hellen Deckenlampen, die in diesem langen Flur alle fünf Schritte installiert waren, sah er einen feinen Riss an der Spitze des einen Eichenlaubblattes. Ist da etwas abgebrochen?, fragte er sich. Dann ist es aber sehr gerade abgebrochen, und wieso klebt das noch dran?
Er legte den Stapel auf einen Rollwagen, der an der Seite stand, und fasste diesen Zipfel durch die Folie hindurch. Er wunderte sich, dass der nicht zu bewegen war, ruckelte, zog schließlich und hatte einen Stick in der Hand - einen Stick! Verblüfft öffnete er den Beutel. Es stank. Er nahm den Stick heraus und verschloss den Beutel schnell wieder. Er hielt tatsächlich einen USB-Stick in der Hand, er konnte es kaum glauben. Er hatte schon die kuriosesten Designs gesehen, Schlüsselanhänger, Nagelfeilen, aber so etwas noch nicht. Er ließ ihn in ein Tütchen fallen, das er in der Tasche hatte, und beschleunigte seine Schritte Richtung Spurensicherung.
Maiks Tür war verschlossen. Kate war jedoch noch da.
„Wo ist Maik?“
„Schon nach Hause.“
„Gerade erst?“
„Nein, ist schon ’ne Weile weg.“
Er wollte ihn nicht zurückholen. Das hatte bis morgen Zeit.
„Ich lass dir das da. Ist die Kleidung von dem Mann aus dem Steinbruch. Die hat mir der Doc eben mitgegeben. Gib sie ihm morgen.“
Sie nahm ihm den Stapel ab und er machte sich auf den Heimweg. Morgen noch und dann sechs Wochen nicht mehr. Er saß in der Bahn und nickte sogleich ein, bis ihn ein Martinshorn wieder weckte. Sie waren erst in der Innenstadt. Er dachte wieder an den Fall Kessler und biss sich daran fest. Die Erinnerung bereitete ihm immer noch heftiges Unbehagen, aber er kam nicht davon los.
ˇˇˇˇˇˇˇ
Er sitzt schon viele Tage an seinem Schreibtisch, wie viele weiß er nicht mehr. Er steckt einfach fest.
Die anderen sollten sich auch noch mal mit dem Fall beschäftigen, aber keiner rührt sich, nicht einmal sein Chef.
Auch der zweite Besuch bei Hermann Wetterer bringt nicht wirklich etwas. Er klingelt an seiner Wohnungstür - nichts -, klingelt noch einmal, erst dann sind Schritte zu hören, die Tür geht auf. Herr Wetterer sieht wirklich schlecht aus. Schweigend gehen sie zum Balkon.
Es ist feucht, Nebelschwaden drängen sich durch die Hochhäuser gegen den Berghang, kämmen durch die Wipfel der Bäume, streichen um die Zinnen der alten Villen den Hang hinauf und huschen über den Berg. Sie stehen an der Brüstung.
Hermann Wetterer hört sich mit ausdruckslosem Gesicht die Einzelheiten von Ritas Hinscheiden an, die er ihm erzählt, ohne ein Detail auszulassen. Er bezweifelt, ob er wirklich zuhört.
„Warum erzählen Sie mir das alles?“
„Sie haben mich selbst darum gebeten auf dem Weg aus der Pathologie.“
„Hab ich das?“
„‚Wie ist sie gestorben?‘ Das haben sie gefragt.“
„Wer ist der Mann, der bei ihr war?“
„Kann ich Ihnen nicht sagen. Herr Wetterer, Sie kannten Rita Kämpf gut, Sie haben sie in ihr Haus geholt, sozusagen mit Ihrer Firma, trotz der Turbulenzen, die sie hier und wahrscheinlich auch im Umkreis ausgelöst haben.“
„Von denen mit der Stadtbezirksverwaltung ganz zu schweigen“, fügt er sarkastisch hinzu. „Sie wären hier nicht das einschlägige Viertel in dieser Stadt und wollten es auch nicht werden. Wahrscheinlich war ich der Erste.“
„Sie müssen doch damit gerechnet haben.“
Er antwortet nicht, steht einfach da, starr, kurzer gepresster Atem, der sich in kleinen Nebelschwaden von seinem Mund löst. In seinen grauen Haaren hängt eine Wolke winziger Wassertropfen. Sie glänzen kalt.
Fritz Hämmerle befürchtet, mit seinen Schilderungen das Gegenteil bewirkt zu haben. Statt mehr zu erfahren, verschließt der Mann sich völlig und hegt wohl eher den Wunsch, sich einfrieren zu lassen, samt seinem aufwühlenden Leid. Er lässt sich nichts anmerken, aber es kriecht ihm aus allen Poren. Er hat auch die Warnung seines Chefs nicht vergessen, sich von dieser Romanze nicht einwickeln zu lassen, aber was will er machen? Er beschließt, Sven Papke zu bitten, seine Recherche auf Hermann Wetterer auszuweiten.
„Herr Wetterer, wollen wir nicht reingehen?“
„Wenn Sie meinen.“ Abrupt geht er voraus in sein Wohnzimmer.
Fritz Hämmerle bemerkt die halb leere Karaffe. Der goldgelbe Inhalt scheint hochprozentig zu sein.
„Keine Angst, die steht schon lange so da.“ Er hat die Sorge seines Besuchers gesehen, setzt sich auf die Couch, das trübe Licht von den großen Fenstern der Terrasse im Rücken, und bietet ihm den Sessel gegenüber an.
Man kann zusehen, wie die glänzenden Tautropfen in seinem Haar langsam verschwinden. Er steht kurz auf, zieht die feuchte Jacke aus und legt sie neben sich über die Lehne.
Fritz Hämmerle schweigt, er hat schon zu viel geredet und schaut durch die Fenster den Nebelschwaden hinterher, die vorbeiziehen.
Sein Gegenüber beugt sich zur Karaffe und fragt mit einem Blick, ob er ihm etwas anbieten darf. Er schüttelt kurz und entschieden den Kopf und schaut weiter hinaus.
Hermann Wetterer hängt seinen Erinnerungen nach, die Ellenbogen auf seinen Knien, die Hände verschränkt, der Kopf gebeugt. Lange geht das so, bis er sich plötzlich anlehnt, den Arm auf die Sofalehne legt und sagt: „Alles in mir sträubt sich bei der Vorstellung, dass sie sich auf so was eingelassen haben soll.“
Wieder folgt ein langes Schweigen. „Ich spüre jetzt noch ihre Hände auf meinem verspannten Rücken. Dann lagen wir da und redeten über alles Mögliche. Immer öfter fuhr ich hin. Die Umwege, die ich in Kauf nahm, wurden länger und sonntags nahm ich den Transporter. Den habe ich jetzt noch, keinen PKW.“
Das passt schon mal nicht zum Zuhälter, denkt Fritz Hämmerle, die fahren meist dicke, protzige Autos.
Herr Wetterer redet weiter: „Anfangs glaubte ich, es gäbe auch von ihrer Seite Zuneigung. Meine ist bis heute geblieben, trotz der Ernüchterung, und das schmerzt. Das war der Grund, weshalb ich sie schließlich hergeholt habe. Ja, das Haus sollte auch abgerissen werden und ich konnte es nicht mit ansehen, den bröckelnden Putz, die ausgetretenen Stufen. Aber eigentlich hatte ich gehofft, wenn ich dem Treiben aus der Nähe zusehen muss, vielleicht loslassen zu können. Sie hätte sich nie entschlossen, ihr Leben mit mir zu teilen. Ich gehöre zu diesen alten Säcken, die einen jungen, schönen Leib verwechseln mit Anmut und Wärme, Witz und Fantasie. Der Leib kriegt mit dem Alter Falten, das andere nicht, wenn’s gut läuft.“
Mensch, Wetterer, du warst schon einsam, bevor dir deine Rita starb.