Ursprünglich haben die Experten verkündet, der Wendepunkt werde wahrscheinlich zum Laternenfest25 eintreten, also morgen. Wie es jetzt aussieht, wird es nicht so kommen. Gestern erhielten wir die Nachricht vom Tod Li Wenliangs, heute heißt es: weitere 14 Tage Quarantäne. Ach, außer denjenigen, die sich in Wuhan aufhalten, wird niemand verstehen, wie viel seelischen Schmerz uns das bereitet. Es geht nicht nur darum, in unseren Wohnungen eingesperrt zu sein und sie nicht verlassen zu dürfen. Was den Menschen in Wuhan fehlt, ist Trost und ein Ventil für ihre aufgestauten Empfindungen. Das mag der tiefer liegende Grund sein, warum der Tod Li Wenliangs allen Wuhanern das Herz zerreißt. Sie wollen laut heulen und ihren Schmerz herausschreien. Für sie ist Li Wenliang einer wie sie selbst, ein Teil ihrer selbst, ihres in der Wohnung eingesperrten Selbst.
Die Epidemie erweist sich als weit gravierender als alle Prognosen. Das Tempo der Ansteckungen übertrifft erst recht sämtliche Vorstellungen. Und das Bizarre und Rätselhafte der Situation macht selbst erfahrene Ärzte ratlos. Personen, die eindeutig auf dem Weg der Besserung sind, fallen plötzlich in einen lebensgefährlichen Zustand zurück. Andere dagegen, die sich eindeutig infiziert haben, zeigen keinerlei Symptome. Dieses geisterhafte Coronavirus, das sich rasant in alle Himmelsrichtungen ausbreitet und zu jeder Zeit und an jedem Ort den Menschen überfällt …
Am härtesten betroffen ist das medizinische Personal. Es ist am frühesten mit den vom Virus Infizierten in Kontakt gekommen. Allein im Zentralkrankenhaus, der Klinik Li Wenliangs, sind dem Vernehmen nach außer ihm noch drei weitere Ärzte gestorben. Mein befreundeter Arzt berichtet, dass auch im Tongji-Krankenhaus einer seiner Freunde, ein Professor der Chirurgie, gestorben ist. Nahezu in jeder Klinik liegt ein Teil des medizinischen Personals auf dem Krankenbett: Ärzte und Schwestern, die im Dienst der Nächstenliebe unter Einsatz ihres Lebens Menschen retten.
Der einzig günstigere Umstand ist, dass sich der größte Teil des infizierten medizinischen Personals bereits in der Frühperiode der Epidemie angesteckt hat. Hieß es nicht damals: »keine Übertragung von Mensch zu Mensch«? Warum sollten sich die Ärzte damals kleiden wie Angehörige einer chemischen Kampftruppe? Und genau in der Zeit, als davon ausgegangen wurde, dass eine Übertragung von Mensch zu Mensch unmöglich sei, als die Stadt Wuhan und die Provinz Hubei ihre »Zwei Versammlungen«26 veranstalteten und die Verbreitung negativer Nachrichten verboten wurde, infizierten sich zahlreiche Ärzte und Krankenschwestern und zogen ihre Familienangehörigen mit ins Unglück. Mein befreundeter Arzt sagt, die schweren Erkrankungen stammten aus dieser Periode. Jetzt, wo ausreichend Schutzausrüstung zur Verfügung stünde, habe die Zahl des infizierten medizinischen Personals deutlich abgenommen. Und wo es zu Ansteckungen käme, verliefe die Erkrankung harmlos.
Er sprach von sich aus eine weitere Sache an: »Als sich damals mehr und mehr Ärzte und Schwestern infizierten, war es jedermann klar, dass eine Übertragung von Mensch zu Mensch stattfindet, aber niemand hat den Mund aufgemacht, weil es untersagt war. Man schweigt, weil es untersagt ist zu reden? Jedermann weiß Bescheid, aber keiner spricht es aus? Liegt nicht genau darin das Problem? Warum durften die Krankenhausleitungen nicht reden? Und wenn sie nicht reden durften, warum haben wir geschwiegen? Wir sind Ärzte, wir tragen unsere eigene Verantwortung.« Diese Fragen richte er an sich selbst und an seine Kollegen. Ich bewundere seine Bereitschaft, sich in diesem Moment selbst diesen Fragen zu stellen.
Bei mir denke ich: Ja, genau das ist die schmerzhafte und zornig stimmende Ursache von Li Wenliangs Tod. Schließlich hat er als Erster das Schweigen gebrochen, auch wenn er nur die eigenen Bekannten und Freunde gewarnt hat, aber er hat immerhin die Wahrheit enthüllt. Das Problem ist nur, dass Li Wenliang, der die Wahrheit gesagt und dafür bestraft wurde, nun gestorben ist, und bis zu seinem Tod hat er kein Wort der Entschuldigung und Einsicht gehört. Wird es jetzt noch irgendjemand wagen, den Mund aufzumachen? Schweigen ist Gold, mit Schweigen demonstriert man seine Gedankentiefe. Aber was bedeutet Schweigen in einer solchen Situation? Werden wir auch künftig mit Schweigen dieser Art konfrontiert sein?
Die gesamte Stadt Wuhan hält nach wie vor strikteste Ordnung. Nur haben, verglichen mit früheren Tagen, unter den eigentlich optimistischen Wuhanern die Gefühle von Bedrückung und Depression etwas zugenommen. Schließlich sind sie schon zu lange in ihren Wohnungen eingesperrt, und die sind meist eng. Selbst vom grenzenlosen Internet fühlt man sich gelegentlich angewidert. Ganz zu schweigen von den persönlichen Problemen, die jedermann hat. Zwei meiner älteren Brüder und ich leiden zum Beispiel an Diabetes. Der Arzt verlangt von uns, dass wir täglich laufen. Mein ältester Bruder kommt gewöhnlich laut Schrittzähler auf etwa 10000 Schritte pro Tag. Mein drittältester Bruder ist noch mehr gefordert, er soll täglich vormittags und nachmittags einen Spaziergang absolvieren. Jetzt sind die beiden 16 Tage nicht mehr vor der Tür gewesen. Und was mich betrifft, so habe ich bereits die Einnahme meiner Medizin auf eine Dosis jeden zweiten Tag reduziert, aber sie reicht nur noch bis morgen. Soll ich das Krankenhaus aufsuchen? Ich zögere.
Im Video, das ich gerade gesehen habe, begleiten acht Fahrzeuge mit Wuhaner Bürgern Li Wenliang auf seinem letzten Weg. Die Zahl acht symbolisiert die acht polizeilich verwarnten Personen. Sie alle haben Tränen in den Augen und heisere Stimmen. Nicht alle Menschen sind aus Eisen, nicht alle Menschen sind fähig, immer rational zu bleiben. Ich fürchte, in der vor uns liegenden Zeit wird die Zahl von Wuhanern mit psychischen Problemen steigen, sie bedürfen der Unterstützung und Anleitung durch Fachleute. Der schwarze Humor der Witzemacher wird ein so ernsthaftes Problem nicht mehr lösen können.
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8 Der Kampf gegen die Epidemie hält an, und auch wir müssen durchhaltenHeute ist Laternenfest. Ursprünglich gingen wir davon aus, dass es der Tag des Wendepunkts sein würde, jetzt ist klar, dass das nicht der Fall ist. Der Kampf gegen die Epidemie hält an, und wir müssen durchhalten. Und da wir schon mal in unsere vier Wände eingesperrt sind, werde ich auch diese Tage noch dokumentieren. Ich schreibe Blogeintrag um Blogeintrag, und Blogeintrag um Blogeintrag wird gelöscht, ich schreibe trotzdem weiter. Viele Bekannte und Freunde rufen mich an und alle ermuntern mich, auf keinen Fall den »Stift« aus der Hand zu legen. Wir stehen hinter dir! Es gibt auch Freunde, die sich Sorgen um mich machen und befürchten, ich könnte in Schwierigkeiten geraten. Keine Sorge! Ich sage ihnen zum Spaß, wenn es damals die Parteivertreter im Untergrund auch unter größten Schwierigkeiten geschafft haben, ihre Berichte zu übermitteln, müsste es jetzt, mit einem derart entwickelten Internet, doch immer möglich sein, eine Nachricht loszuschicken. Davon abgesehen, ist unser Gegner jetzt das Virus. Ich stehe hundertprozentig hinter der Regierung, unterstütze jede ihrer Aktionen und helfe ihr, jene zu überzeugen, denen es an Verständnis mangelt. Wir unterscheiden uns lediglich in der Methode. Womöglich lasse ich im Prozess des Schreibens gelegentlich ein paar mehr Emotionen aufblitzen, aber damit hat es sich.
Man muss konstatieren, dass sich die gegenwärtige Lage, verglichen mit den letzten Wochen, sehr verbessert hat. Die Stadtbezirke, die Viertel und die Einheiten arbeiten sehr gewissenhaft und gründlich. Gestern erhielt ich einen Anruf vom Stadtviertel mit der Anfrage, ob ich Fieber hätte und wie viele Personen sich in meiner Wohnung aufhielten. Heute rief mich auch der junge Li an, der im Verband die Stellung hält, und erkundigte sich nach meinem körperlichen Befinden und meinem Wohlergehen. Und Kollegen, die mitbekommen haben, dass mir die Medizin ausgeht, bieten sich an, für mich im Krankenhaus Nachschub zu besorgen.
Traurig stimmt mich heute die Nachricht meines ältesten Bruders, dass ein hervorragender Professor seiner Hochschule gestorben ist, mit gerade mal 53 Jahren. Was für ein Verlust. Der Rektor der Universität Li Peigen schreibt in seiner