Um es noch einmal zu betonen: Nach Aussagen der Ärzte ist die durch das neue Coronavirus hervorgerufene Lungenentzündung extrem ansteckend, doch unter regulären Behandlungsbedingungen ist die Sterberate sehr gering. Die Kranken, die außerhalb unserer Provinz behandelt wurden, können dies bestätigen. Dass in Wuhan so viele Erkrankte sterben, liegt vor allem daran, dass sie keinen Platz im Krankenhaus bekommen. Leichte Erkrankungen werden zu akuten Erkrankungen, akute Erkrankungen führen zum Tod. Hinzu kommt, dass man die falschen Isolierungsmaßnahmen ergriffen hat. Isolierung im eigenen Haushalt führt dazu, dass sich die ganze Familie infiziert. Die Zunahme der Kranken wiederum führt zu den vielen Tragödien. Mein befreundeter Arzt sagt, hätte man rechtzeitig richtig reagiert, würde Wuhan jetzt über ausreichend Betten für die akuten Fälle verfügen. Doch aufgrund des Chaos zu Beginn seien die Menschen in Panik geraten und hätten die Krankenhäuser gestürmt, auch wenn sie gesund waren, und dadurch das Chaos noch vergrößert. Und nun sei die Regierung unentwegt damit beschäftigt, die Maßnahmen anzupassen. Man müsse abwarten, ob es ihr gelinge, die Sache in den Griff zu bekommen und so den Wendepunkt früher zu erreichen.
Die Behelfskrankenhäuser, die seit gestern bereitstehen, werden im Netz von vielen in Frage gestellt.22 Man befürchtet, dass die konzentrierte Isolation vieler Personen mit Verdachtsfällen und Infizierten auf engstem Raum zur weiteren Verbreitung des Virus beitragen könnte. So wie ich es verstehe, orientiert man sich bei diesen Behelfskrankenhäusern jedoch am Vorbild von Kriegslazaretten. Zunächst ist vordringlich, die Verdachtsfälle mit Fiebersymptomen so schnell wie möglich zu konzentrieren und sie mit behandelnden Ärzten zu versorgen. Gleichzeitig muss man daran arbeiten, die Isolierungsmöglichkeiten zu verbessern. Andernfalls stecken die frei herumlaufenden Infizierten mit jedem weiteren Tag mehr Menschen an. Auf diese Weise ist die Ausweitung der Epidemie nicht in den Griff zu bekommen. Die Bedingungen in den großen Räumen sind sicher nicht ideal, vor allem mit der Aussicht, dass nach und nach die Abstände der Betten verkleinert werden müssen. Aber all das sind Spekulationen, niemand kann genau vorhersagen, was geschehen wird. Jedenfalls ist momentan die Isolation aller frei herumlaufenden Infizierten die vordringliche Aufgabe.
In einem heute im Netz hochgeladenen Video kann man sich das Huoshenshan-Krankenhaus anschauen. Ein Patient hat die Aufnahmen gemacht. Die Bedingungen scheinen dort nicht übel zu sein, und auch die Patienten machen einen zufriedenen Eindruck. Es tut gut, so etwas zu sehen. Ich wünsche allen Patienten, dass sie bald genesen. Vor allem aber wünsche ich mir, dass möglichst bald wieder Vernunft und Ordnung einkehren.
Es ist eindeutig, dass am Gebräu dieser Epidemie verschiedene Kräfte mitgemischt haben. Der Gegner ist nicht allein das Virus. Wir selbst sind unsere Gegner beziehungsweise deren Komplizen.
Hört man sich um, kommt erst jetzt vielen Leuten zu Bewusstsein, dass es nichts bringt, Tag für Tag nur die Stärke unserer Nation zu bejubeln, und dass Kader, die nur in politischen Schulungen herumsitzen und leere Phrasen dreschen, aber unfähig sind, konkrete Arbeit zu leisten (früher nannte man solche Leute »Maulwerktätige«), völlig nutzlos sind. Erst jetzt ist vielen bewusst geworden, dass in einer Gesellschaft, der es an gesundem Menschenverstand mangelt und in der man die Wahrheit nicht in den Tatsachen sucht, die Tötung von Menschen kein Gerede bleibt, sondern Realität wird – und zwar die Tötung vieler Menschen.
Wir haben zwar die Epidemie im Jahr 2003 durchgemacht, doch sie wurde schnell vergessen. Werden wir es im Jahr 2020 ebenso rasch wieder vergessen? Der Dämon ist stets auf der Lauer; wenn wir nicht auf der Hut sind, wird er ein weiteres Mal zuschlagen, bis wir unter Qualen geweckt werden. Die Frage lautet: Wollen wir überhaupt aufwachen?
Ich denke an die SARS-Zeit zurück. Damals, im März 2003, stand einem Kommilitonen aus Kanton eine schwere Operation bevor. Das war genau die Zeit, in der sich das Virus ausbreitete und die Behörden die Sache vertuschten. Um unserem Kommilitonen beizustehen, reisten wir mit mehreren Leuten aus den unterschiedlichsten Regionen Chinas nach Kanton. (Keiner von uns trug eine Schutzmaske.) Die Operation fand im Krankenhaus statt, wo das SARS-Virus am stärksten wütete. Hin- und Rückfahrt erfolgten im Zug. Kurz darauf kam alles an die Öffentlichkeit, und im ganzen Land brach Panik aus. Auch uns saß der Schreck in den Gliedern. Das Schicksal meinte es gut mit uns, niemand hatte sich infiziert.
Diesmal habe ich in der Zeit, in der wir noch nichts vom Virus wussten, zwischen Neujahr und dem 18. Januar, dreimal Kollegen nach Operationen in zwei verschiedenen Krankenhäusern besucht. Bei den ersten zwei Besuchen trug ich keinen Mundschutz. Auch diesmal habe ich hinterher große Angst ausgestanden, und wieder hatte ich großes Glück.
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5 Wir alle bezahlen den Preis für diese von Menschen gemachte KatastropheGestern war Frühlingsbeginn. Heute ist das Wetter tatsächlich frühlingshaft. Die Reihe von Kampferbäumen, die beiden Osmanthussträucher und der Magnolienbaum vor unserer Haustür grünen, als habe es nie einen Winter gegeben.
Wir befinden uns heute noch immer in der von den Experten vorausberechneten Hochphase der Epidemie. Die Zahl der bestätigten Krankheitsfälle steigt noch immer steil an. Ein mir bekannter berühmter Maler befindet sich in kritischem Zustand. Meine Kollegin Yl teilt mir mit, dass drei gemeinsam ihrem Hobby frönende Amateurfotografen aus ihrem Freundeskreis gestorben sind. Mein Freundeskreis ist klein, ich bin dankbar, dass sie alle am Leben sind.
Der Krisenzustand Wuhans ist zwar nicht mehr so chaotisch wie vor kurzem, aber von einer tatsächlichen Entspannung kann noch keine Rede sein. Die deprimierenden Videos und verzweifelten Hilferufe im Netz sind jedoch deutlich weniger geworden, man findet inzwischen viel mehr positive Beiträge zur Aufmunterung und Ermutigung. Ob das daran liegt, dass die Probleme tatsächlich verschwunden sind, oder daran, dass Berichte über unerfreuliche Begebenheiten gelöscht werden, ist schwer zu sagen. Löschungen sind so alltäglich geworden, dass wir anfangen, gegenüber dieser Routine abzustumpfen. Dass wir, wie ich gestern geschrieben habe, unsere eigenen Feinde werden, in Feindschaft mit uns selbst liegen, beginnt vermutlich mit dieser Abstumpfung.
Im Moment allerdings müssen wir uns mit den gegenwärtigen Sorgen befassen und vor den Gefahren für unsere körperliche Unversehrtheit extrem auf der Hut sein. Noch immer predige ich Tag für Tag Verwandten und Freunden: nicht vor die Tür gehen, nicht vor die Tür gehen. Nach so vielen Tagen, die wir in unsere vier Wände eingesperrt sind, kommt es auf ein paar weitere Tage auch nicht mehr an. Eintöniges Essen, und wenn schon! Nach dem Ende der Epidemie schlemmen wir uns durch all die Restaurants, von denen wir jetzt träumen. Für uns das Vergnügen, für die Restaurants das Geld.
Am Nachmittag erhalte ich eine ziemlich interessante Nachricht. Der erste Satz ist im Stil der offiziellen Medien gehalten: »Die Attacke Wuhans auf die Epidemie hat bereits begonnen.« Der folgende Inhalt ist sehr aufschlussreich. Ich fasse ihn in von mir geordneter Form zusammen:
1 Patienten werden auf Krankenhäuser in drei Quarantänekategorien aufgeteilt.
2 Das Huoshenshan-Krankenhaus, das Leishenshan-Krankenhaus und die zur Behandlung von Coronaopfern designierten Allgemeinkrankenhäuser gehören zur ersten Kategorie; sie sind zuständig für Isolierung und Behandlung von Schwerkranken.
3 Die bereits existierenden und neu eingerichteten insgesamt elf Behelfskrankenhäuser bilden die zweite Kategorie; sie sind zuständig für die Isolierung und Behandlung von Patienten mit leichten Symptomen.
4 Hotels und Parteischulen gehören zur Kategorie drei, sie dienen der Isolierung von Verdachtsfällen und Personen, die in engem Kontakt zu Infizierten standen.
5 Sobald